The Prom
Film-Kritik von Yannic Niehr / Titelmotiv: © Netflix, Inc.
Den Abschlussball einfach canceln – geht das? In der kleinen Stadt Edgewater in Indiana scheinbar schon. Und alles nur, weil Emma Nolan – lesbisch, geoutet und stolz – mit ihrer Freundin zum Ball gehen möchte. Dem Elternbeirat, allen voran der kontrollierten und strengen Mrs. Greene, passt das so gar nicht in den Kram. Ob sie anders reagieren würde, wenn sie wüsste, dass es ihre eigene Tochter Alyssa ist, mit der Emma zum Tanz will? Rektor Hawkins will das Ganze nicht auf sich beruhen lassen. Doch zunächst scheint das Schlamassel perfekt: Emma wird zum Sündenbock, und der Ball fällt für alle aus.
Doch Hilfe kommt ja oft aus heiterem Himmel: Zur gleichen Zeit erfahren vier abgehalfterte Broadwaystars, die über schlechte Kritiken oder einen Mangel an Jobs klagen, von Emmas Geschichte, die auf sämtlichen Sozialen Medien bereits durch die Decke geht. Was wäre besser geeignet für einen großangelegten Publicity-Stunt, der wieder positive Schlagzeilen bringen könnte? Natürlich nur als positiver Nebeneffekt einer selbstlosen Handlung, um einem armen jungen Mädchen zu helfen, versteht sich. Also machen sich Dee Dee Allen, Barry Glickman, Angie Dickinson und Trent Oliver in Begleitung von Dee Dees Manager Sheldon auf den Weg in das so gar nicht glamouröse Indiana. Sie alle haben etwas beizutragen, müssen aber bald feststellen, dass ihre Anwesenheit alles nur noch schlimmer macht – und dass die Sache für alle Beteiligten doch tiefer geht, als erwartet …
„Your prejudice and oppression won‘t get past this Broadway Star!“
Bei der Masse an Eigenproduktionen, die Netflix am laufenden Band raushaut, ist es verwunderlich, dass das Genre Musical dabei bislang fast gänzlich unbeachtet blieb. Das soll sich nun mit The Prom ändern. Der Film ist seit dem 11.12.2020 auf dem Streamingdienst zu sehen, und schnell fällt auf, dass hier die Hausaufgaben gemacht wurden: Mit Ryan Murphy darf jemand auf dem Regiestuhl Platz nehmen, der als Schöpfer der Hitserie Glee bereits einiges an Erfahrung mit highschool-thematischen Musicals für den Heimbildschirm mitbringt. Murphys Stil (der neben dem Thema Gleichberechtigung auch andere seiner Projekte wie Pose, The Politician oder American Horror Story bestimmt) ist alles, nur nicht subtil. Damit bringt er für die Verfilmung eines derart jungen und modernen Stoffes (die Bühnenversion feierte 2018 ihre Broadwaypremiere) genau die richtige Energie mit.
Allerdings neigt Murphy zum Übertreiben: Gerade zu Beginn ist der Fluss des Films etwas chaotisch und scheint nicht immer allzu großes Interesse an den Songs zu haben, die sich in einem Musical ja traditionell organisch aus der Handlung ergeben bzw. diese vorantreiben sollen. Der Schnitt lässt das erste Drittel des Films eher ziellos dahinplätschern, dessen Elemente sich erst im späteren Verlauf stimmiger zusammenfinden. Die ein oder andere Nummer wirkt zudem halbgar von den großen Genrevorbildern abgekupfert. Die etwas überpolierte Produktion sendet gelegentlich High-School-Musical-Vibes aus: schön, aber zu glatt. In anderen Szenen jedoch fügen sich die Zutaten dann plötzlich zu einem tollen Gesamteindruck, bei dem die knalligen Farben und die nach etwas simpler zeitgenössischer Broadway-Pop-Manier gestrickten, aber schmissigen und ohrwurmlastigen Songs aus der Feder von Matthew Sklar mit frechen Texten von Chad Beguelin eine mitreißende Dynamik entfalten. Bei The Prom sind die einzelnen Elemente deutlich stärker als die Summe ihrer Teile.
„If your hands are shaking, turn them into Jazzhands!”
Ein großer Pluspunkt ist die Darstellerriege, bei der Netflix alle Register gezogen hat: Für Dee Dee Allen, die große Broadwaydiva mit Anklängen an Liza Minnelli oder Patti LuPone, hat man tatsächlich Schauspiellegende Meryl Streep anheuern können. The Prom ist nicht Streeps erstes Musical; singen durfte sie u.a. bereits 2014 in der Kinoversion von Sondheims Into the Woods. Doch tatsächlich liefert sie hier die bislang beste und überzeugendste Gesangsleistung ihrer Karriere ab - vor allem im Showstopper „It’s not about me“. Ihre Figur ist ein Mädchen vom Lande, das seine Träume in die Großstadt gezogen haben, wodurch sie zynisch, selbstsüchtig und etwas oberflächlich geworden ist; doch über ihre Wurzeln gelingt es ihr schließlich, sich mit Emma zu identifizieren. Streep lotet die Figur gekonnt mit der richtigen Mischung aus beißendem Humor und feinfühliger Zerbrechlichkeit aus.
Auch die Figur Barry Glickman (gespielt vom durch seine Late-Night-Show bekannten James Corden, der neben Streep ebenfalls in Into the Woods zu sehen war) kommt zunächst nicht gut weg, findet aber eine Verbindung zu Emma aufgrund der Tatsache, dass er selbst als Teenager aufgrund seiner Homosexualität von den Eltern verstoßen wurde. Er darf mit „Tonight belongs to you“ einen der Schlüsselsongs einleiten – eine energetische Montage, in welcher sich die volle Musicalmagie entfalten kann. Durch den darauf folgenden, grausam herzzerreißenden Wendepunkt gerät der Rest des Films gedämpfter. Manche von Cordens emotionalen Szenen in diesen späteren Momenten sind zwar zu dick aufgetragen, schauspielerisch überzeugt er hier jedoch auf ganzer Linie.
Trent Oliver (mit Andrew Rannells, Hauptdarsteller in der Urbesetzung des Musical-Megahits Book of Mormon der South-Park-Macher, hat man für diese Rolle einen waschechten Broadwaystar gewinnen können) ist das Küken der Gruppe, der nach langer, beruflicher Durstrecke in Edgewater unverhofft eine neue Bestimmung findet und gleich zwei große und lustige Lieder zum Besten geben darf; besonders „Love Thy Neighbor“ ist erwähnenswert, eine zum Mitwippen verführende Gospelnummer, die die Engstirnigkeit des konservativen amerikanischen „Bible Belt“ aufs Korn nimmt.
Nicole Kidman (der hochkarätige Star ist seit Moulin Rouge und Nine ebenfalls kein Musicalneuling mehr) bleibt als Angie Dickinson trotz ihres fingerschnippenden Fosse-Moments „Zazz“ eher blass, entwickelt aber eine erfrischend aufrichtige, berührende Freundschaft mit Emma. Insgesamt erhält jeder der vier zumindest einen großen Augenblick im Rampenlicht.
„Life’s no Dress Rehearsal!”
Keegan-Michael Key kann zwar als Rektor Hawkins gesanglich überraschen, sein komisches Talent jedoch nicht voll ausspielen, und eine etwas überflüssige Romanze zwischen ihm und Dee Dee Allen lenkt eher von der Haupthandlung ab. Auch der Rest der Besetzung hinterlässt leider keinen nachhaltig bleibenden Eindruck: Die High-School-Welt, in der sich alles abspielt, hätte – mitsamt den sie „bewohnenden“ Schülern – etwas authentischer und dreidimensionaler geraten müssen, um dem zentralen Konflikt einen geerdeten Hintergrund zu bieten. Durch die hervorragend umgesetzten, wahnwitzigen Choreographien kann das Ensemble aber sehr viel rausreißen!
Kerry Washington (bekannt u.a. aus Django Unchained oder Scandal) mimt Antagonistin Mrs. Greene, die viel eigenen Ballast mitbringt, kühl, aber menschlich, und Ariana DeBose (die 2021 in Steven Spielbergs Remake des Klassikers West Side Story auf der großen Leinwand zu sehen sein wird) als deren Tochter und Emmas Freundin Alyssa gibt nuanciert eine der gefühlvollsten Figuren des Films, die sich (wenn auch etwas spät) sogar in ihrem eigenen Song „Alyssa Greene“ vorstellen darf. Insgesamt ist das schwächste Glied leider Newcomerin Jo Ellen Pellman in der Hauptrolle der Emma, die zwar gesanglich wahnsinnig viel auf dem Kasten hat, aber nicht glaubhaft eine Teenagerin verkörpert. Optisch mutet sie fast wie eine junge Drew Barrymore an, doch reicht ihr Charme (noch) nicht aus, sich von den anderen nicht die Show stehlen zu lassen.
Dafür kann sie jedoch nur bedingt etwas, denn der Film hat an ihrem Charakter am wenigsten Interesse. Die Zuschauerschaft kriegt nie wirklich ein Gefühl dafür, wer Emma ist. Ihr erstes großes Solo „Just Breathe“ verrät nicht genug, und erst kurz vor Schluss zieht sie einen mit dem wunderschönen (und interessant inszenierten), balladesken Appell „Unruly Heart“ endlich ganz auf ihre Seite. Über weite Strecken wirken sie und ihr Anliegen aber eher wie ein Aufhänger, um den alle anderen Charaktere kreisen und ihre eigenen Geschichten und Veränderungen durchleben.
Es ist schade, dass diese Hauptfigur nicht mehr ausgebaut wurde, denn dadurch braucht es sehr lange, bis die Sphäre der „Teenager“, vertreten von Emma, Alyssa und ihren Klassenkamerad*innen, und die Sphäre der „Erwachsenen“, vertreten durch die Broadwaydarsteller, den Rektor und Alyssas Mutter (sowie einem von Gaststar Tracey Ullmann gespielten, weiteren Elternteil) sich in der Handlung miteinander verzahnen können. Denn im Grunde erzählt The Prom – und das clever und respektvoll – von einer Auseinandersetzung sowie einer zaghaften Annäherung verschiedener Generationen.
Die emotionale Direktheit von Emmas und Alyssas Story dürfte zwar gerade junge Leute ansprechen, sie scheint aber der gesellschaftlichen Diskussion ein wenig hinterherzuhinken (wobei es natürlich – gerade in den USA, wo der „Prom“ ja auch eine deutlich größere Bedeutung hat als beispielsweise der hierzulande geläufige „Abiball“ – Orte gibt, an denen sich Geschichten wie diese auch heute noch abspielen) und nimmt sich im Vergleich mit den Szenen der Erwachsenen anfangs etwas platt aus, die humorvoll und raffiniert einen augenzwinkernden Blick auf Geltungssucht, die komplexen Verhältnisse zwischen Kindern und Eltern sowie fehlgeleiteten Promiaktivismus werfen (und mit einer Menge witziger Musicalanspielungen aufwarten).
„No-one out there ever gets to define the life I’m meant to lead with this unruly heart of mine”
Trotz aller Schwächen muss man eines festhalten: The Prom geht in die Vollen! Ähnlich quietschvergnügt wie in Hairspray wird mit Schmackes gesungen, getanzt, geweint und gelacht – und über Themen zum Nachdenken angeregt, die gerade für die Lebenswirklichkeit von Jugendlichen entscheidend sind. Hier wurde schon sehr vieles richtig gemacht (die Laufzeit von über 2 Stunden und ein direkter Vergleich der Tracklist des Netflix-Soundtracks mit dem des Broadway-Albums legen die Vermutung nah, dass es sich um eine sehr originalgetreue Verfilmung handelt), und ist auch noch Luft nach oben, kommt der Spaß nicht zu kurz. Die Hauptsache (und das spürt man beim Zusehen): The Prom hat das Herz am rechten Fleck. Von daher: Reinschauen lohnt sich!
Fazit
The Prom ist zwar etwas holprig, hat aber für Musicalmuffel wie -fans, ob jung oder alt, einiges zu bieten. Wer derzeit nach einem Film Ausschau hält, der mal wieder ein breites Lächeln ins Gesicht zaubern kann, ist hier sehr gut beraten. Und wer danach noch Bock auf die literarische Umsetzung hat, dem sei das gleichnamige Buch ans Herz gelegt, das bei heyne fliegt erscheint.
Bilder: © Netflix
THE PROM
- USA 2020
- 132 Minuten
- Regie: Ryan Murphy
- Musik: Matthew Sklar
- Lyrics: Chad Beguelin
- Drehbuch: Chad Beguelin, Bob Martin
- Darsteller: Jo Ellen Pellman, Ariana DeBose, Meryl Streep, James Corden, Andrew Rannells, Nicole Kidman, Kerry Washington, Keegan-Michael Key, Kevin Chamberlin, Logan Riley Hassell, Sofia Deler, Nico Greetham, Nathaniel J. Potvin
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