Elisabeth Herrmann

08.2022 Interviewfragen zu „RAVNA“ mit Elisabeth Herrmann von Rita Dell‘Agnese.

"Das enge Zusammenleben mit den Rentieren, die seit Jahrtausenden eine Gemeinschaft mit den Menschen bilden, war mir völlig fremd. Genauso wie die samische Kultur (...)"

Jugendbuch-Couch:Für gleich zwei Bücher hast Du die Welt der Samen, ein indigenes, nordisches Volk, als Schauplatz gewählt. Was war der Auslöser für diese Entscheidung?

Elisabeth Herrmann: Vor über dreißig Jahren war ich zum ersten Mal in der Arktis. Vardo ist mir dabei besonders in Erinnerung geblieben. Wer schon einmal am Varangerfjord war, wird sich bestimmt erinnern, dass die samische Kultur dort gegenwärtig und prägend ist. Als ich mit diesem Buch anfing, in dem ein Kommissar aus der Stadt auf eine Polizistin vom Land trifft, war es für mich naheliegend, Ravna zur Samin „zu machen“.

Jugendbuch-Couch: Was hast Du empfunden, als Du das erste Mal in die Welt der Samen und ihrer Rentiere eingetaucht bist?

Elisabeth Herrmann: Es war für mich eine neue, unbekannte Welt. Das enge Zusammenleben mit den Rentieren, die seit Jahrtausenden eine Gemeinschaft mit den Menschen bilden, war mir völlig fremd. Genauso wie die samische Kultur, der ich mich hoffentlich respektvoll angenähert habe. Man kann viel darüber lesen. Aber dann auf dem Gipfel eines Berges sitzen, über die archaische Landschaft bis zum Horizont schauen und zuhören, wenn der (samische Freund) neben dir dieses Gefühl mit einem Joik besingt, ist einzigartig.

Jugendbuch-Couch: Hat sich Deine Wahrnehmung im Laufe der Recherchen geändert?

Elisabeth Herrmann: Mir sind die Lebensbedingungen der indigenen Völker viel präsenter geworden. Es sind ja nicht die letzten Paradiese, in denen sie unbeschwert leben, sondern massiv in ihrer Existenz bedrohte Bevölkerungsgruppen. Ihre Lebensgrundlagen werden mehr und mehr vernichtet. Glücklicherweise wächst gerade das Bewusstsein, dass wir ohne ein Gleichgewicht zwischen uns und der Natur wohl nicht mehr lange existieren können. Es ist einiges in Bewegung geraten, aber noch lange nicht genug.

Jugendbuch-Couch: Es handelt sich ja um eine Krimi-Reihe, dennoch stehen die Samen und der Konflikt zwischen den Kulturen sehr stark im Zentrum. Kommen die Krimi-Elemente dadurch nicht etwas zu kurz?

Elisabeth Herrmann: Das glaube ich nicht. Das eine geht ja mit dem anderen Hand in Hand. Genau dieser Konflikt der Kulturen bringt die Ermittlungen ja voran und baut eine Spannung auf, die ohne diese Elemente vielleicht so kaum gelingen könnte. In diesem Buch bedingt das eine das andere, fördert und unterstützt. Für den Spannungsbogen war das in meinen Augen ein riesengroßer Gewinn.

Jugendbuch-Couch:Inwiefern ist der Konflikt noch heute Thema?

Elisabeth Herrmann: Um es ganz kurz zu machen: Die Samen leben seit Jahrtausenden auf diesem Land. Im siebzehnten Jahrhundert änderte sich das. Siedler kamen und beanspruchten Grund und Bodenschätze. Bis heute ist dieser Konflikt nicht beigelegt, sondern schwelt immer noch. Erst im letzten Jahr kochte er wieder hoch, als mit einem lang erwarteten und spektakulären Urteil die Samen das Recht zurückbekamen, ihre Jagd- und Fischereilizenzen selbst zu vergeben. Dazu kommt, dass der Energiehunger der Menschen auch vor den letzten unberührten Landschaften nicht Halt macht. Neben der Zerstörung der Natur für den Abbau von Bodenschätzen werden auch die Wege der Rentiere gestört. Das hat gravierende Folgen für die Tiere und ihre Besitzer. Nach der brutalen und fast völligen Vernichtung der samischen Kultur im 19. und 20. Jahrhundert sind immer noch viele Vorurteile im Umlauf. Rassismus inner- und außerhalb der norwegischen Polizei gehört leider auch dazu.

Jugendbuch-Couch: Mit Rune Thor wird Ravna eine sehr kantige und prägnante Figur entgegengesetzt. Wieso dieser kauzige Typ?

Elisabeth Herrmann: Rune Thor sollte der krasse Gegenpol sein. So wie Ravna die weite, unberührte Landschaft der Arktis verkörpert, so ist Thor das Sinnbild der rastlosen Stadt. Um gute Konflikte zu kreieren, muss es gute Gründe dafür geben. Zwei davon sind in meinen Augen die maßlose Selbstüberschätzung von Thor und seine Alkoholsucht, in die ihn der Verlust seiner Familie getrieben hat. Er hat nichts mehr zu verlieren, also muss er auch auf nichts und niemanden Rücksicht nehmen. Ich fand es spannend zu beobachten, wie sich so ein Mensch verhält. Das hat mich manchmal beim Schreiben sogar selbst überrascht. Und Charaktere, die mich überraschen, mag ich lieber als solche, bei denen alles vorhersehbar ist.

Jugendbuch-Couch: Deine Heldin darf immer auch wieder Fehler machen oder unterliegt zumindest auch Fehleinschätzungen. Wirst Du Ravna an diesen weiter reifen lassen? Darf man sich auf weitere Bücher mit ihr freuen?

Elisabeth Herrmann: Ravna steht ja noch ganz am Anfang ihrer Laufbahn als Polizistin. Gerade schreibe ich „ihr“ drittes Buch. Dieses Mal spielt es in Oslo und sie ist der „fish out of water“, sie muss sich in einer fremden Umgebung zurechtfinden. Ravna wird also weitermachen, und wir werden sehen, wohin sie uns noch führt.

Und zum Schluss noch ein paar Shorties:

Jugendbuch-Couch: Lieblings-Jugendbuch-Autor/in?

Elisabeth Herrmann: Kerstin Gier, Klaus Kordon.

Jugendbuch-Couch: Lieblings-Protagonist/in eines Jugendbuchs?

Tobias Steinfeld: Harry Potter.

Jugendbuch-Couch: Lieblings-Jugendbuch?

Elisabeth Herrmann: Meine eigenen :)

Jugendbuch-Couch: Welches Thema lässt Dich zu einem Jugendbuch greifen?

Elisabeth Herrmann: Alles, was sich im Klappentext spannend anhört.

Jugendbuch-Couch: Der schönste Moment in einem Buch?

Tobias Steinfeld: Wenn ich unbedingt weiterlesen will und es schaffe, das auch zu tun, anstatt jemandem zu erzählen, was da gerade Krasses passiert und wie toll es gemacht ist.

Jugendbuch-Couch: Der schönste Moment in einem Buch?

Elisabeth Herrmann: Wenn sich alles fügt, alles einen Sinn ergibt, und wenn man weiß, dass man etwas gut gemacht hat.

Das Interview führte Rita Dell‘Agnese im August 2022.
Foto: © Dominik Butzmann

LGBT
in der Jugendliteratur

Alljährlich wird im Juni der Pride Month gefeiert, um die Vielfalt unserer Gesellschaft hervorzuheben. Weltweit erheben Schwule, Lesben, Transgender, Bisexuelle und Menschen anderer sexueller Orientierungen ihre Stimme für Toleranz und stärken so die Gemeinschaft. LGBTQ+ ist schon lange kein Randthema mehr in der Jugendliteratur, sondern ein zentraler Aspekt zahlreicher Neuerscheinungen.

mehr erfahren