Bekannte Geschichte aus unbekanntem Blickwinkel
Das meint Jugendbuch-Couch.de: "Bekannte Geschichte aus unbekanntem Blickwinkel"
Über die Meuterei auf der Bounty ist viel geschrieben und erzählt worden. So glaubt fast jeder, die Geschichte zu kennen. Bis zu jenem Moment, in dem er das Buch "Der Schiffsjunge" aufschlägt und zusammen mit dem 14-jährigen John Jacob Turnstile einen ganz anderen Blick auf die Geschehnisse werfen kann. Doch zum Anfang: Bei einem Diebstahl ertappt muss Turnstile das Angebot annehmen, als Schiffsjunge mit der Bounty zur See zu fahren. Obwohl sich Turnstile dank seiner Gewitztheit bisher ganz gut durchschlagen konnte – obwohl es das Leben nicht immer gut mit ihm meinte – hat er es sich mit einigen Mitgliedern der Crew bald verscherzt. Kapitän Bligh hingegen fühlt sich der Junge verbunden – er erkennt, dass der strenge Kapitän im Grundsatz ein fairer Mensch ist, dem Gefühle nicht fremd sind.
Die Geschichten von John Boyne zeichnen sich jeweils durch Scharfsinn, Tiefgründigkeit und eine nicht unerhebliche Portion Humor aus. Das ist auch beim Schiffsjungen nicht anders. Quasi als Nebenprodukt – im Zentrum steht ja der aufgeweckte Junge John Jacob Turnstile – erzählt John Boyne mehr über den rauen Alltag, dem sich die Seeleute einst ausgesetzt sahen. Brutale Rituale beim Queren des Äquators, Kameradschaft aber auch Zank und aufgrund der erzwungenen Nähe über mehrere Monate hinweg Aggressionen machen das Leben auf dem Schiff aus. Der Junge, der bisher mehr oder weniger nur die Welt in einem Kinderbordell kannte, ist mit einer völlig neuen Wirklichkeit konfrontiert. Die Ich-Erzählung des Jungen vermag es dabei, Nähe zu schaffen und die Leser am Geschehen teilhaben zu lassen.
Im Prinzip ist "Der Schiffsjunge" kein klassisches Jugendbuch sondern eher ein höchst gelungenes All-Age-Buch. Auch wenn mit dem 14-jährigen Protagonisten die Sichtweise der Jugendlichen einen wichtigen Aspekt beisteuert, so macht dies dennoch nicht die ganze Geschichte aus. Mit erstaunlichem Geschick manövriert der Autor – manchmal in durchaus seichten Gewässern – durch ein klippenreiches Gebiet. Er erzählt aus der Sicht eines Teenagers einen Roman für erwachsene Abenteurer. Das gelingt ihm –bis auf ein paar wenige, winzige Ausrutscher – auch tadellos. In einer direkten Sprache gehalten und mit wachem Geist unterlegt ziehen John Jacob Turnstiles tagebuchartige Erzählungen in den Bann und öffnen die Sinne für ein echtes Abenteuer. Der eindrücklichen Schilderung ist es zu verdanken, dass die Leser sich mal in brütender Hitze wähnen, dürstend nach Regen und Wind, und mal in einem tosenden Sturm, das Gesicht von aufgewühltem Salzwasser gepeitscht.
Der völlig neue Blickwinkel, aus dem die Geschichte der Meuterei auf der Bounty erzählt wird, ist wohltuend und wirft dennoch Fragen auf. Eine davon wird wohl in vielen Fällen das eigene Bücherregal betreffen und lauten: "Wo hab ich denn dieses Buch über die Meuterei hingesteckt." Denn John Boyne schafft, was längst nicht allen Autoren gelingt: Er weckt Hunger auf mehr. Auf mehr Informationen über die Ereignisse auf der Bounty und auf mehr Erlebnisse von John Jacob Turnstile. Zumindest der erste Hunger kann gestillt werden; eine Fortsetzung mit dem ans Herzen gewachsenen vorwitzigen Protagonisten ist John Boyne zunächst schuldig geblieben.
FAZIT
"Der Schiffsjunge" ist ein Roman, der sich wohltuend von der breiten Masse abhebt und nicht nur eine Abenteuergeschichte bietet, sondern zugleich auch viele historische Details vermittelt, ohne dass je das Gefühl aufkommen würde, eine verkappte Geschichtslektion in Händen zu halten. Damit stellt der Autor John Boyne sein großes Talent unter Beweis. Obwohl mit über 600 Seiten stattlich für ein Jugendbuch kommt nie das Gefühl von Langeweile auf. Und klappt der Leser das Buch schließlich zu, wird er sich wohl nur schwer von den ans Herz gewachsenen Figuren trennen können.
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