Nichts für empfindliche Gemüter!
Es ist dunkel. Und still. Gonzo hat keine Ahnung, ob es Tag oder Nacht ist. Die 16-Jährige sitzt im Dunkelarrest im geschlossenen Jugendwerkhof Torgau. Die Situation zerrt an ihren Nerven, versetzt sie in einen Zustand zwischen Wachen und Träumen. Doch es sind keine schönen Träume. Denn Gonzos Leben ist bis jetzt alles andere als schön gewesen. Als Gonzo schon glaubt, ihr Leiden könne nicht mehr überboten werden, versucht ein Aufseher, sie zu vergewaltigen. Gonzo dreht durch, verletzt sich schwer und landet im Krankenhaus. Es ist ihre einzige Chance. Denn nur, wenn ihr die Flucht gelingt, wird sie überleben. Tatsächlich kann Gonzo abhauen. Auf ihrer verzweifelten Suche nach einem Versteck lernt sie René kennen. Der junge Mann will der DDR den Rücken kehren und in den Westen flüchten. Er lädt Gonzo ein, sich diesem riskanten Unternehmen anzuschließen. Doch Gonzo ist sich nicht sicher, ob sie René vertrauen kann. Mehr als einmal wurde sie bei Fluchtversuchen verraten. Eine Wahl bleibt ihr trotzdem nicht. Denn wenn sie zurück nach Torgau kommt, ist sie verloren.
Wie grausam der menschliche Geist sein kann, ist nicht erst seit Grit Poppes Roman Abgehauen bekannt. Aber durch die Geschichte von Gonzo bekommt die Grausamkeit ein Gesicht und rückt dem Leser ganz nahe. Die Autorin schafft derart intensive Bilder, dass es nicht möglich ist, sich dem Grauen zu entziehen. Zusammen mit Gonzo erlebt man die zerstörerische Wirkung von Dunkelhaft und ungehemmter Brutalität. Dass sich der Leser dabei mit der 16-Jährigen solidarisiert, versteht sich von selbst – egal was sie getan hat, um bestraft zu werden. Dass Gonzo alles andere als ein angepasstes Mädchen ist, mag aufgrund ihrer schwierigen Geschichte keineswegs verwundern. Vielmehr erstaunt es, wie stark ihr Wille nach wie vor ist, die Tortur zu überleben. Denn das Bild, das sich nach und nach von den Schrecken Torgaus ergibt, erinnert fatal an die Quälereien in einem KZ.
Geschickt bringt Grit Poppe auch die Emotionen ins Spiel, die im Laufe des Aufenthalts in der Botschaft in Prag aufkommen: Die bedrängte Enge des provisorischen Flüchtlingslagers, das Schwanken zwischen Hoffnung und Verzweiflung, die von minimalsten Ereignissen bestimmten Stimmungen, die sich unter den Menschen in der Botschaft wie eine Welle verbreiten. Die Zeit in der Botschaft, in der Menschen zur Untätigkeit verdammt sind und sich in einer Art Schwebezustand befinden, kann die Autorin hervorragend zur Geltung bringen. Grit Poppe ermöglicht es den Lesern, diese Emotionen mitzuerleben.
Weil Grit Poppe ins Zentrum ihres Romans ein Mädchen stellt, das durchaus einem jungen Mädchen aus dem eigenen Umfeld der Leser entsprechen könnte, bezieht sie die Leser von Anfang an ins Geschehen ein, macht sie sozusagen zu Komplizen. Die Brutalität des Stoffes liegt unter anderem in dieser Anbindung an einen realistischen Alltag. Das Böse lauert nicht wie in Horror-Geschichten in der Form eines unbekannten Wesens – sondern in der Form eines Staatssystems zum einen und von sadistisch veranlagten Aufsichtspersonen zum anderen. Das Wissen darum, dass das, was Grit Poppe durch Gonzo erleben lässt, so hat stattfinden können, macht betroffen, wütend und auch hilflos. Und es ist in einer Wucht erdrückend, die den Roman für empfindliche Gemüter zu einer psychischen Belastung werden lassen kann. Von Verlagsseite ist das Buch an ein 14- bis 17-jähriges Publikum gerichtet – hier sollten sich Eltern dennoch darauf einstellen, mit ihren Kindern anschließend über das Buch zu sprechen und ihnen zu helfen, das Gelesene zu verarbeiten.
Die eingängige Sprache, die atemlose Spannung während den Fluchtszenen und die tiefen Einblicke in das Empfinden der Protagonistin tragen dazu bei, dass sich Abgehauen deutlich von der Masse der Jugendbücher abhebt. Es ist allerdings Literatur, die Erwachsene ebenso ansprechen dürfte – vor allem jene, die sich mit dem Thema DDR bereits auseinander gesetzt haben oder bereit dazu sind, sich der Thematik zu stellen. Besondere Brisanz bekommt die Geschichte durch das Nachwort, das aufzeigt, dass Gonzos Erlebnisse weder eine reine Fiktion sind noch einen Einzelfall darstellen. Man wird sich unvermittelt die Frage stellen, ob solche Vorkommnisse tatsächlich alle der Vergangenheit angehören, oder ob es auch heute – lange nach dem Fall der DDR – noch möglich ist, dass Menschen auf diese Weise gequält werden.
FAZIT
Grit Poppe hat nach Weggesperrt erneut einen hervorragend geschriebenen Roman vorgelegt. Abgehauen ist eine intensive, bedrückende Lektüre, die den Leser stark einbezieht. Wer sich mit psychischen Belastungen schwer tut, sollte dieses Buch nicht alleine lesen, sondern das Gespräch darüber suchen.
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