Erinnerungen an Anne Frank werden wach
Judenverfolgung, Nazi-Terror, Krieg: Die Kindheit der kleinen Rachel wird von den Ereignissen im zweiten Weltkrieg überschattet. Zwar versuchen die Eltern, ihre beiden Töchter – Rachel hat noch eine sieben Jahre ältere Schwester, Miri – vor den schlimmsten Erfahrungen zu schützen, doch stehen sie selber der Naziherrschaft machtlos gegenüber.
In ihrer kindlichen Art erzählt Rachel, wie sich die ganze Familie nach und nach den immer stärker einschränkenden Gesetzen gegen die Juden beugen muss. Der Vater, ein angesehener Arzt, versucht sich bis zuletzt für die Menschen einzusetzen – ohne Rücksicht darauf, welcher Religion sie angehören. Trotz allem verliert die Familie zuerst ihr Zuhause und einige Zeit später auch das bisschen Heimat, das ihnen die zugeteilte Wohnung im Judenhaus geboten hat. Als die Soldaten kommen, um das Judenhaus zu räumen und die Bewohner ins KZ zu schaffen, kann sich Rachel im Küchenschrank verstecken. Sie wird von einem älteren Paar entdeckt, das gekommen ist, die Wohnung zu plündern und das wenige an Hab und Gut, das den nun deportierten jüdischen Familien noch geblieben war, fortzuschaffen. Sie nehmen Rachel mit sich – obwohl sie sich damit grosser Gefahr aussetzen. Denn bei dem Ehepaar wohnt auch noch deren Enkel Freddie, ein strammer Hitlerjunge, der alles andere als begeistert ist von der Idee, ein Judenmädchen zu verstecken. Alle Beteiligten leben in der ständigen Sorge, entdeckt und verraten zu werden. Dennoch kommt es zu einer Annäherung der so unterschiedlichen Menschen: Bis eine Bombe der Alliierten das Haus trifft.
Das Grausen des Kriegs aus Sicht eines Kinder erzählt: Moya Simons legt mit ihrem Roman Das Flüstern in der Nacht eine an sich berührende Geschichte vor. Leider wählt sie jedoch einen Weg, der viele Fragen aufwirft. Zum einen ist es die äusserst kindliche Erzählweise, mit der die Autorin ins Buch einsteigt. Immerhin hat die Ich-Erzählerin Rachel zu diesem Moment bereits die Schulreife erlangt, doch die Art der Erzählung lässt auf ein deutlich jüngeres Mädchen schliessen. Zwar erlebt der Roman zusammen mit der Protagonistin einen Entwicklungsprozess, der aber hinkt stets hinter dem altersgerechten Handeln her. Angesichts des schweren Lebens, das die betroffenen Familien führen, müsste Rachel wesentlich reifer sein, als dies im Roman dargestellt wird.
Leider steht die kindliche Art der Erzählung auch in Diskrepanz zum Inhalt. Dieser wird vom Verlag her einem Zielpublikum von 10 bis etwa 15 Jahre empfohlen, doch dürften sich vor allem die älteren Jugendlichen mit der gewählten Sprache schwer tun. Erst recht, da der Stoff, der vermittelt wird, vor allem die jüngeren Jugendlichen überfordern dürfte, geht Moya Simons doch stark auf die Details der Judenverfolgung ein, schildert Ungerechtigkeiten bei der Lebensmittelzuteilung und das schwere Los, den gelben Stern tragen zu müssen. Das alles setzt ein Grundverständnis voraus, das auf einem Aufarbeiten der Geschichte des zweiten Weltkriegs fusst. Gerade bei Zehn- bis Zwölfjährigen dürfte diese Basis noch nicht vorhanden sein, weshalb der Roman bei dieser Alterskategorie seine Wirkung fast vollständig verpufft.
Die Erzählung der kleinen Rachel erinnert sowohl in ihrer persönlichen Färbung als auch in den geschilderten Lebensumständen stark an das berühmte Tagebuch der Anne Frank. So wird sich mancher, der sich mit der entsprechenden Literatur auseinander gesetzt hat, fragen, ob hier nicht einfach eine vor allem räumlich verschobene Geschichte entstanden ist, die durch das weitherum bekannte Tagebuch schon mehr oder weniger bekannt war. Es ist wichtig und richtig, auch jüngeren Kindern davon zu erzählen, dass es zu einer furchtbaren Verfolgung der Andersgläubigen – vor allem der Juden gekommen ist, die zur Vernichtung von Millionen von Menschen führte. Doch kann dies nur dann nachhaltig sein, wenn die Kinder mit dieser Geschichte nicht alleine gelassen werden. Leider passiert das bei Moya Simons etwas. Besonders die Auflösung der Geschichte, die zwar durchaus kindgerecht ist, aber kaum etwas mit der Realität zu tun hat, ist eine verschenkte Chance, sich nachhaltig und in einem fördernden Sinn mit dem Grausen der Judenverfolgung auseinander zu setzen.
Fazit:
Vor dem Hintergrund, dass Ein Flüstern in der Nacht auch eine Erinnerung daran ist, dass es Menschen gab, die sehr wohl die Entwicklung und den Völkermord hinterfragten, und auch im Bestreben danach, dass es nie wieder zu einer solch menschenverachtenden Situation kommen kann, ist der Roman sehr wertvoll. Die Ausführung jedoch wirft zu viele Fragen auf, um wirklich überzeugen zu können.
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