Wenn er mich findet, bin ich tot
Die dreiundzwanzigjährige Leila lebt seit dem Tod ihrer Mutter allein in einer kleinen Wohnung im Londoner Stadtteil Rotherhithe. Sie hat keine Freunde, keine Verwandten außer einer gleichgültigen Großmutter und keine Kollegen. Ihr Geld verdient sie von zu Hause aus als Softwaretesterin. Die Freizeit verbringt sie mit World of Warcraft, Surfen, bei Facebook oder in Internetforen. Dabei stößt sie auf das Philosophieforum Red Pill und wird bald nach einem Persönlichkeitstest vom Forumsbetreiber Adrian Devlish als Elite-Denkerin in den inneren Kreis aufgenommen. Bei einem Treffen erzählt Adrian ihr von einer Freundin, die diskret Selbstmord begehen möchte, da sie an einer Krankheit leidet, die ihre Lebensqualität stark einschränkt. Um ihrer Familie und ihren Freunden keinen Kummer zu bereiten, soll jemand nach ihrem "Auschecken" im Internet ihre Rolle übernehmen. Leila sieht es als ihre Pflicht an, der Freundin zu helfen, einer 39-jährigen Künstlerin namens Tess, die an einer bipolaren Störung leidet. Der Plan funktioniert zunächst. Leila übernimmt Tess' Internet-Identität und erfindet für sie ein neues Leben auf einer kanadischen Insel, wo sie garantiert niemand besuchen kommt. Doch dann will Tess' Mutter mit ihrer Tochter telefonieren, Leila beginnt sich in Tess' Exfreund Connor zu verlieben und Adrian wird von der Polizei gesucht.
Ich bin ein Alien
Leila erzählt rückblickend ihre Geschichte in Form eines Berichts, wobei sie sich ausdrücklich um Sachlichkeit und Emotionslosigkeit bemüht, um nah an der Wahrheit zu bleiben. Es ist ein schonungsloser Bericht mit einer Vor- und Nachgeschichte, in dem sie offen über ihre Überlegungen hinsichtlich ihrer Rolle in dem Selbstmordprojekt und ihre Gefühle spricht, die sie in der Zeit und danach hatte, ihre Ängste und Befürchtungen, Hoffnungen und Enttäuschungen. Die Frage, ob sie sozial isoliert und labil ist und deshalb ein Opfer des "teuflischen" Adrian wurde oder ob es eine freie Entscheidung war, bleibt offen und lässt Raum für eigene Überlegungen.
Leila ist eine intelligente junge Frau, die Probleme rational und analytisch angeht und sich viel mit Philosophie und menschlichem Verhalten befasst, aber mit ihren Gefühlen wenig anfangen kann. Sie ist eine Außenseiterin, unangepasst und eigenwillig, und betrachtet die Frauen ihres Alters mit Distanz und Unverständnis wie eine außerirdische Spezies.
Leilas Erlebniswelt ist so gut wie leer. Sie hatte noch nie einen Freund, noch nicht einmal ein Date, sie hat nichts von London gesehen, obwohl sie dort aufgewachsen ist. Ihr Entdeckungsdrang ist mental und geistig ausgerichtet. Die attraktive und beliebte Tess hingegen ist das genaue Gegenteil von Leila. Als Leila in ihre Rolle schlüpft, entsteht eine gefährliche Kombination. Denn Leila lernt nicht nur das Leben aus einer anderen Perspektive kennen, sondern erfährt auch mehr über sich, ihre Wünsche und Bedürfnisse.
Fazit
Ein düsterer Roman über das Erwachsenwerden, die Lebens- und Identitätsprobleme junger Menschen in der aktuellen Lebenswirklichkeit, über Manipulation, Fremdbestimmung und Gleichschaltung. Intelligent und packend erzählt.
Die Charaktere in diesem Jugendroman sind in ihren zwanziger und dreißiger Lebensjahren. Das Buch spricht auch erwachsene Leser an.
Wer will Tilly töten?
Tilly Krah ist 14 – und gilt als schwer erziehbar. Mit einer Gruppe von Jugendlichen soll sie in einem Arbeitscamp im finnischen Norden ein Hotel aus Eis aufbauen helfen. Für Tilly ist die räumliche Nähe zu den anderen Mädchen der Gruppe belastend – Ausgleich sucht sie im täglichen Laufen, das ihr ein Gefühl von Weite und Freiheit vermittelt. Und ihr für einen Moment den Druck nimmt, denn Tilly fühlt sich seit Jahren bedroht, ohne konkret sagen zu können, wer der Mann ist, der sie so hartnäckig verfolgt. Die Campleitung sieht Tillys Laufen mit gemischten Gefühlen, lässt sie aber gewähren. Während sich Tilly abzugrenzen sucht, unternimmt ein anderes Mädchen der Gruppe, Sandra, alles, um ihr ähnlich zu sein, bis hin zum Äußeren. Als Sandra ermordet aufgefunden wird, weiß Tilly, dass der Anschlag ihr gegolten hat. Sie wird durch die Ereignisse gezwungen, sich ihrer Vergangenheit zu stellen, die sie konsequent ausgeblendet hat. Denn der Mörder lauert noch immer auf sie. Tilly, müde, immer auf der Flucht zu sein, will den Mörder aus der Reserve locken und eine Entscheidung herbeiführen. Immer deutlicher wird ihr auch bewusst, dass sie nicht allen Menschen in ihrem Umfeld trauen darf.
In ihren Thriller baut die Autorin Elisabeth Rapp einige Elemente ein, die zunächst skurril anmuten. Dennoch nimmt die Szenerie sofort auf eine düstere Art gefangen. Das Jugendcamp etwa hat den Charakter eines Straflagers. Die Jugendlichen müssen sich ihren Aggressionen stellen und gleichzeitig damit fertig werden, in einer Gruppe von anderen Jugendlichen mit schwierigem Hintergrund zu bestehen. Hier kommt eine leise Erinnerung an die verschiedenen Reality-Shows der Privatsender auf, die schwierige Jugendliche aus ihrem Umfeld holen und in einer Arbeitssituation zu läutern versuchen. Als Hintergrund für den Thriller hat Elisabeth Rapp den Schauplatz jedoch ausgezeichnet gewählt. Denn der Leser ist zunächst versucht, die Verfolgungsängste von Tilly wegzuwischen und will daran glauben, dass sich das Mädchen in der finnischen Wildnis sicher fühlen kann. So wenig, wie die Jugendlichen aus dem Camp fliehen können, so unwahrscheinlich scheint es, dass sich jemand im Umfeld des Camps verborgen halten könnte.
Sehr geschickt geht die Autorin bei der Zusammenstellung der Charaktere vor. Die Gruppe ist einerseits homogen – alle Jugendlichen haben Aggressions-Potenzial und tun sich schwer damit, sich in die gesellschaftlichen Normen einzufügen – andererseits trägt jedes Mitglied der Gruppe seine ganz individuelle Geschichte und Erfahrung mit sich, was dazu führt, dass die einzelnen Jugendlichen in kritischen Situationen ganz unterschiedlich reagieren. Diesen Prozess zeigt die Autorin subtil auf .... Und lässt durch die Wahl der Perspektive – Erzählerin ist Tilly – ihre Leser unvermittelt am Geschehen teilhaben.
Nicht alle Charaktere sind gleichermaßen tiefgründig aufgebaut, wie die Protagonistin, die mit einer unverblümt und leicht schnoddrigen Art die Ereignisse beschreibt. Doch das mag man der Autorin verzeihen, setzt sie doch das Schwergewicht eindeutig auf die 14-Jährige und ihre düstere Geschichte. Man mag ahnen, dass sich in Tillys Vergangenheit einige sehr schlimme Dinge ereignet haben müssen und versteht die Handlungsweise des Mädchens ohne wenn und aber. Auf diese Weise erklärt Elisabeth Rapp Zusammenhänge zwischen frühkindlichen Traumata und späteren Verhaltensweisen – doch niemals wirken diese Erklärungen dozierend oder abgehoben. Vielmehr lässt die Autorin das Bewusstsein um die Verkettung der Ereignisse langsam bei ihren Lesern lassen.
FAZIT
Wenn er mich findet, bin ich tot ist ein gelungener Thriller, der mit rotzig-frechem Unterton besticht und dennoch ein großes Maß an Spannung birgt. Dass die eine oder andere Szene etwas weit hergeholt scheint, ist angesichts der stimmigen Story und der guten Atmosphäre absolut verzeihlich.
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