Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen
100 Jahre ist es her, dass der Weltkrieg begann, bald 120 Jahre wäre der Autor alt, und vor mehr als 80 Jahren ist dieses Buch zum ersten Mal erschienen – das ist alles ganz schön lange her. Aber der Autor, selbst als junger Mann Soldat im Ersten Weltkrieg, lässt seinen 19-jährigen Soldaten Paul Bäumer so lebendig erzählen, dass wir Leser auch heute noch sofort neben ihm im Schützengraben hocken. Seine Erzählsprache ist einfach jung – nicht jugendlich oder noch schlimmer, das, was Erwachsene dafür halten, ob damals oder heute. Und er versucht nicht, literarisch zu beeindrucken, sondern sagt schlicht, was Sache ist. Zum Beispiel wie peinlich und unmöglich es ist, in die Bettflasche zu pinkeln, wenn eine junge, hübsche Lazarettschwester sie einem hinhält.
Und schon nach den ersten Seiten ist der Erste Weltkrieg gar nicht sooo weit weg. Im Gegenteil, zusammen mit Paul Bäumer ist der Leser mittendrin. Der ist von der Schulbank nicht an die Uni oder auf Rucksackreise gegangen, sondern zusammen mit seinen Schulkameraden an die Front. Freiwillig – wenn man das in der damaligen durch und durch auf Nationalismus und Militarismus eingestellten Gesellschaft so nennen mag – und mit der festen Überzeugung, zum Ende des Sommers wieder zu Hause zu sein. Die letzten Kriege Deutschlands waren damals lange her und eher kurz gewesen.
Seitdem war zwar die Technik rasant und brutal weiterentwickelt worden. Aber 1914 hat sich kaum einer vorgestellt, welche Mengen an Menschen sich gegenseitig mit Maschinengewehren, Giftgas, Panzern, Flammenwerfern, Flugzeugen und weitreichender Artillerie umbringen können – jahrelang und ohne militärisch nennenswert voranzukommen. Natürlich hätte man es sich vorstellen können, wenn man gewollt hätte; auch damals gab es schon Anti-Kriegsbücher – "La Débâcle" über den deutsch-französischen Krieg 1870/71 von Émile Zola oder "Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen" über den amerikanischen Bürgerkrieg von Ambrose Bierce – auch damals gab es Menschen wie die erste Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner, die sich gegen Krieg, Hass, Gewalt und für Frieden und Völkerverständigung eingesetzt haben. Aber das sind andere Geschichten.
Hier geht es um Paul Bäumer. Ob wir ihn nun für naiv und verblendet halten oder ob wir seine Aufbruchstimmung ins Abenteuer sogar ein bisschen verstehen: seine Weltanschauung bricht ruckzuck zusammen, angesichts von Drill und Schikane, von Krach, Gestank, Schlamm, Hunger, Blut und Leichen. Er hat tagelang Dienst an der Front, tötet, wird verletzt, im Lazarett zusammengeflickt und aufgepäppelt. Dann wieder Front, Todesangst, Panik, Tote und grauenvoll Verletzte.
Das Buch wird oft als Anitkriegsbuch bezeichnet – und natürlich ist es kein Buch für den Krieg, denn wer nach der Lektüre Krieg noch gut findet (ob notwendig oder immer vermeidbar, das ist eine andere Diskussion), der sollte lieber zur Therapie als zur Bundeswehr gehen. Aber es hat keinen straffen pädagogischen roten Faden, keine eingearbeiteten pazifistischen oder moralischen Bekenntnisse. Sondern es geht um Paul, wie er den Krieg erlebt, so wie er eben ist, jung, unsicher, verletzlich, scharf auf Frauen und manchmal auch zu Blödsinn aufgelegt.
"Dieses Buch soll weder eine Anklage sein noch ein Bekenntnis, es soll nur den Versuch machen, über eine Generation zu berichten, die vom Krieg zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam."
Das schreibt Remarque im Vorwort.
Sein eigentlicher Roman ist ein schmales Bändchen. Diese Ausgabe ist mehr als doppelt so dick, weil der Leiter des Remarque-Friedenszentrums Osnabrück Thomas F. Schneider einen umfassenden Anhang zusammengestellt hat, als Bonustrack sozusagen. Viel über Remarque, unveröffentlichte Szenen, Leserbriefe und Zeitungsartikel über das Buch. Als das Buch erschien, warb der Verlag damit, der junge Mann habe sich den Text in sechs Wochen von der kriegstraumatisierten Seele geschrieben. Das stimmt nach heutigen Kenntnisstand nicht. Remarque war Schriftsteller und sein Werk ist das eines Profis. Ein Glück. Denn hier sitzt jedes Wort, jeder Satz, jedes Kapitel-Ende. Zum Beispiel, als er den Zählappell nach einer weiteren Schicht an der Front beschreibt:
"Der Morgen ist grau, es war noch Sommer, als wir hinausgingen und wir waren 150 Mann. Jetzt friert uns, es ist Herbst, die Blätter rascheln, die Stimmen flattern müde: ein, zwei drei, vier. Bis 32. Es sind noch zweiunddreißig Mann."
Oder als Paul seinen Freund Franz im Lazarett besucht, das Bein amputiert, den Tod vor Augen:
"Er ist nicht der erste, den ich so sehe; aber wir sind zusammen aufgewachsen, da ist es doch etwas anderes."
Nach und nach verschwinden sie alle, tot, zum Krüppel geschossen und ausgemustert, in der Irrenanstalt. Nur Paul ist noch übrig, und es liegt in der Luft, dass der Krieg bald vorbei ist. Das Ende des Buches erleben wir Leser aber allein: denn auch Paul Bäumer fällt, wird totgeschossen,
"im Oktober 1918*, an einem Tage, der so ruhig und still war an der Front, dass der Heeresbericht sich nur auf den Satz beschränkte, im Westen sei nichts Neues zu melden". * Ein paar Tage vor dem Waffenstillstand (für alle, die die Zahlen noch nicht so parat haben)
Fazit
Ein Klassiker, der so jung und lebendig ist, wie manch modernes Buch es nicht ist. Wer es gelesen hat, trifft den 19-jährigen Paul Bäumer immer wieder. Zum Teil, weil viele neuere und ganz neue Bücher seine Erlebnisse zum Teil wortwörtlich gecovert haben. Aber auch, weil der Leser ihm so nah ist, dass man automatisch sein Gesicht vor Augen hat, sobald man nur etwas vom ersten Weltkrieg liest oder hört. Und sei es nur so eine unvorstellbar hohe Zahl wie 10 Millionen tote Soldaten. Einer davon war Paul.
15 Geschichten, wie es gewesen sein könnte, von künstlich bis gut
Vielleicht war es mit der Entstehung dieses Buches so: Da ist man "namhafter" Autor und bekommt eine Einladung vom Fischer Verlag, für eines seiner als hochwertig und besonders beworbenen "Bücher mit dem blauen Band" eine Geschichte beizusteuern. Thema: "Den Ersten Weltkrieg anhand von persönlichen Schicksalen für Jugendliche erfahrbar zu machen"; Motto: "Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen", unter dem schon der amerikanische Schriftsteller und Journalist Ambrose Bierce Erzählungen von Soldaten und Zivilisten aus dem amerikanischen Bürgerkrieg im 19. Jahrhundert veröffentlichte. Und mit 15 zumeist preisgekrönten Kollegen und Kolleginnen um die Wette zu schreiben, hat den oder die ein und andere nicht unbedingt locker und kreativ werden lassen. Vielleicht war es auch ganz anders.
Jedenfalls hat es nicht hundertprozentig gut funktioniert. Klar, die meisten namhaften Autoren machen es nicht unter einem bestimmten Niveau und es ist ja auch alles Geschmackssache. Aber: es ist oft eine Schippe zu viel. Zu viel bedeutungsschwerer Inhalt, wie bei dem Jungen, der ein Referat über den Ersten Weltkrieg schreiben muss, dessen Vater Krebs hat und den er regelmäßig zur Chemotherapie begleitet, dessen Opa Soldat war und der trotz allem an nichts anderes denken kann als an die Hügelchen unter dem Shirt seiner Klassenkameradin, mit der zusammen er das Referat macht. Zu viel um die Ecken gedacht, wie bei dem als Kammerjäger in Israel arbeitenden Insektenforscher, der auch irgendwas mit dem Ersten Weltkrieg zu tun haben wird. Zu viel Moral von der Geschicht, wahlweise der patenten Großmutter in den Mund gelegt oder gleich als belehrende Stimme aus dem Off:
"Eine Welt, in der Menschen die Folgen ihres Handelns nicht mehr wahrnehmen und sich von jeder Schuld entlasten ist eine unmenschliche."
Oder zu viel literarische Wirkungsabsicht: wenn Schäfchenwolken den tiefblauen Himmel tupfen oder das Gesicht einer Frau tausend Schiffe in Bewegung setzen kann; und: ein deutscher Junge weint nicht, nein. Ihm "schießt Wärme in die Augen". Alles Geschmackssache, wie gesagt. Einige Geschichten sind wirklich stark. Spannend, informativ, aber nicht überladen, verständlich, berührend, sie lassen den Leser selber denken, sind lebendig und machen Spaß, trotz des elendigen Themas Krieg.
Zum Beispiel der Leutnant, der den Reißverschluss erfunden hat, weil er sich – warum immer – vor Knöpfen ekelt; weil er aber an der Front war, verpasst hat, ein Patent anzumelden. Oder der Schweizer Junge, der an der Neutralität seines Landes verzweifelt, weil er es nicht für die richtige Strategie hält, die Augen abzuwenden und sich nicht einzumischen, zumindest nicht fürs Gewissen, wenn auch für die Gesundheit. Das Mädchen auf einem österreichischen Bauernhof, das auf einmal die Aufgabe der fehlenden Männer übernehmen muss.
Der Briefwechsel zwischen Bruder und Schwester, der die letzten Kriegstage im Herbst 18 lebendig werden lässt; die eintönigen Tage eines Deserteurs; der junge Kavallerist, der Angst vor Pferden hat und seine Zeit damit verbringt, Kriegs-Vokabeln zu lernen: Französisch, Russisch, Polnisch. Und die ein oder andere nett gecoverte und ausgeschmückte Szene aus Remarques Im Westen nichts Neues.
Sehr schön ist, dass zu jeder Geschichte passende und zum Teil originale Fotos stehen, die Kapitel sind sehr abwechslungsreich layoutet, mit verschiedenen Schriftgrößen und -typen.
Es gibt eine Zeitleiste, die man auch gut gebrauchen kann, um aus den einzelnen Schicksalen und Zeitabschnitten wieder den Ersten Weltkrieg zusammen zu puzzlen. Gebrauchen könnte. Denn auch die sollte wohl besonders sein und ist so keine Leiste im Anhang geworden, sondern ein von der ersten bis zur letzten Seite durchlaufendes Tickerband. Sieht gut aus, aber weil die Stichpunkte manchmal über mehrere Seiten gehen und man auf der Suche nach einem bestimmten Datum oder Ereignis das ganze Buch durchblättern und den unteren Rand abscannen muss, ist sie total unübersichtlich und unpraktisch.
Fazit
Das Buch ist ein bisschen gekünstelt. Wen das nicht stört oder wer es sogar als künstlerisch wertvoll genießen kann, der erfährt in den 15 ganz unterschiedlichen Geschichten viel darüber, wie der Erste Weltkrieg war. Historische Fakten werden wenig vermittelt und wer kaum Vorwissen hat, braucht mindestens noch ein Sachbuch.
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