Der Zorn des Lammes
Coco erwacht aus dem Koma. Unmenschlicher Schmerz empfängt sie – und die Gewissheit, dass sie ihre große Liebe Tomke verloren hat. Das Letzte, woran sich Coco erinnern kann, ist die hässliche Szene vor dem Lagerfeuer, als sie die Clique zur Rede gestellt hat.
Seit ein paar Stunden hatte sie gewusst, dass die Clique systematisch jüngere Schüler drangsalierte, sie beklaute und um Bargeld erpresste. Sie wollte weg, die Clique verlassen. Da flippte Tomke aus. Coco landete im Feuer und später mit schwersten Verbrennungen im Krankenhaus. Es dauert eine ganze Weile, bis Coco weiß, was anschließend mit der Clique passiert ist und erst mal aufatmet. Tomke wird künftig eine andere Schule besuchen, Coco muss ihm nicht mehr täglich begegnen. Wenn sie denn erst überhaupt wieder in die Schule gehen kann. Vorläufig muss sie im Krankenhaus bleiben und Operation um Operation über sich ergehen lassen. Die Eltern machen sich große Sorgen um sie. So große, dass sich die jüngere Schwester Nelly zurückgesetzt fühlt. Nelly kann damit nicht recht umgehen. Da ist es für sie wie eine Offenbarung, dass Tomke, für den sie schon immer heimlich geschwärmt hat, sich für sie interessiert.
Nelly ist noch nicht so reif, wie es Coco war. Sie will nicht sehen, dass die Clique um Tomke sie mit in den Abgrund reißt. Je länger Nelly mit ihr verkehrt, desto stärker verstrickt sie sich in den Machenschaften der Jugendlichen. Gewalt beginnt, Nellys Leben zu beherrschen. Coco ist die Einzige, die die Gefahr, in der Nelly steckt, richtig einordnen kann. Sie muss versuchen, ihre Schwester aus den Fängen von Tomke und seiner Clique zu befreien.
Mit Feuerprüfung wendet sich Autorin Brigitte Blobel erneut einem Thema zu, das zunehmend eine Rolle in der Gesellschaft spielt. Sie erzählt auf eine sehr eingängige Art, wie sich Gruppendruck aufbaut und wie schwer es ist, dem entgegen zu treten. In diesem Roman katapultiert es Coco von einem Moment auf den anderen aus der Gruppe hinaus in die Position der Gegnerin. Dies, obwohl sie sich lediglich distanzieren wollte, also die Gruppe selber (noch) nicht unter Druck setzte, um die gestohlenen Dinge zurück zu geben.
Für einen Moment scheint Coco als Figur allerdings nicht ganz stimmig zu sein. Sie wird zunächst als Mädchen geschildert, das durch die Gefühle zu Tomke ganz schön in Aufruhr gerät und von seinem Kuss in aller Öffentlichkeit hingerissen ist. Diese Gefühle, die wunderbar zu einem Mädchen passen, das gerade den Sprung vom Kind zur jungen Frau vollzieht, stehen im Gegensatz zur nüchternen und konsequenten Art, in der sich Coco nur kurze Zeit später der ganzen Clique entgegen stellt. Hier zeigt das Mädchen eine erstaunliche Reife und sehr viel Mut. Denn sie ist sich der Folgen durchaus bewusst: Ihre Kritik an der Gruppe wird sie künftig zu einem potentiellen Opfer der anderen machen, zumindest aber zu einer Außenseiterin. Im weiteren Verlauf des Romans ist allerdings der Charakter von Coco sehr stimmig und überzeugend dargestellt, so dass die leichte Irritation vom Anfang schnell vergessen ist.
Sehr schön greift Brigitte Blobel die Ängste Cocos auf, die durch ihre Verbrennungen verunstaltet ist und sich davor fürchtet, nie wieder anziehend zu sein. Während die Ärzte und Schwestern versuchen, dem Mädchen Mut zu machen, sich mit ihrem Körper auseinander zu setzen, blockt Coco ab und sieht hinter jeder Geste ein mögliches Indiz dafür, dass ihr die Heilungschancen viel zu rosig geschildert werden. Ebenfalls absolut überzeugend ist das Verhältnis der beiden Schwestern zueinander dargestellt. Hier kommt die Autorin sehr nahe an den Alltag, den Familien mit mehreren Teenagern zur Genüge kennen. Genau das macht den Roman zusätzlich wertvoll. Das, was die Autorin in einfachen, aber gut gewählten Worten erzählt, ist etwas, was nicht nur Jugendliche, sondern auch Eltern absolut nachvollziehen können.
FAZIT
Feuerprüfung ist ein eindrücklicher Roman, der dazu Mut machen soll, sich Gruppendruck nicht zu beugen, sondern seinen eigenen Überzeugungen zu folgen. Es ist aber auch ein Roman, der aufzeigt, wie schnell ein junger Mensch in den Sog einiger charismatischer Personen geraten können und nicht in der Lage sind, sich aus der Spirale von Gewalt und Erpressung zu befreien. Die Autorin kommt ohne Übertreibungen aus und bleibt damit sehr nahe an den Leserinnen und Lesern.
Zu kurz für dieses komplexe Thema
Jazz ist froh, dass sie der Enge ihres Elternhauses entkommen kann. Sie will in Berlin ein neues Leben beginnen. Das Praktikum bei einer Zeitung gibt ihr den nötigen Boden dazu. Die junge Frau kämpft gegen Schuldgefühle, die sie seit vielen Jahren begleiten. Damals starb ihr kleiner Bruder, der unter ihrer Obhut stand. Obwohl niemand ihr einen Vorwurf machte, ist Jazz überzeugt, dass sie versagt hat. Noch während sie mit den Geistern ihrer Vergangenheit kämpft, schiebt sich unvermittelt ein weiterer, böser Geist in ihr Leben. Dies in der Person von Milan. Der junge Mann mit tiefgreifenden psychischen Problemen sieht in Jazz seine große Liebe. Systematisch forscht er sie aus und stalkt sie. Jazz braucht eine Weile, um die Gefährlichkeit von Milan zu erkennen, auch wenn sie von Anfang an ein Unbehagen verspürt, wenn es um den jungen Mann geht. Als er sie in die Enge treibt, bricht aus Jazz der Zorn aus, den sie so lange in sich herum getragen hat.
Das Thema, dem sich Johannes Groschupf widmet, ist brandaktuell. Milan stalkt Jazz. Die junge Frau hat dem – wie alle Stalkingopfer – zunächst nur wenig entgegen zu setzen. Gekonnt zeigt der Autor auf, wie sich der Druck in ihr langsam aufbaut, bis sie es schafft, die Opferrolle abzustreifen und sich zu befreien. Soweit also ein Jugendroman, der viel Hintergrund zu bieten hat. Doch versucht der Autor mit seinem Buch einen Spagat. Es ist nicht nur der komplexe Themenbereich "Stalking", der tragendes Element ist. Quasi als Nebenschauplatz verpasst er dem Stalkingopfer eine schwierige psychische Situation, mit der die junge Frau nicht so recht klar kommen kann. Und er spricht das Thema Psychose an, lässt den Täter Stimmen hören und zum kranken Verfolger werden. All das packt Johannes Groschupf in gerade mal 190 Seiten. Schon ein einziges dieser drei Themen wäre in einem Roman dieser Länge stark eingeschränkt – die Kombination dieser drei Themen überfrachtet die Geschichte definitiv.
Mit der gewählten Konstellation wird Groschupf dem Thema "Stalking" nicht wirklich gerecht. Gerade in Bezug auf die Jugendlichen, die das Zielpublikum für diesen Roman ausmachen, erweckt der Autor einen völlig falschen Eindruck. Dadurch, dass das Opfer, nämlich Jazz, in ihren eigenen Problemen gefangen ist, wirkt sie verletzlich und als typisches Opfer. Auf der anderen Seite ist Milan als Psychopath ein typischer Täter, dessen Handlungsweise jedoch durch seine Krankheit in ihrer Verwerflichkeit abgeschwächt wird. Damit beschreibt Groschupf jedoch keineswegs eine typische Stalking-Situation. Das jugendliche Publikum könnte fälschlicherweise den Eindruck bekommen, Stalking könne nur dann vorkommen, wenn die Konstellation eine typische Opfer- bzw. Tätersituation vorsieht. Um dem Zielpublikum die Brisanz des Themas näher zu bringen, wäre eine "normale" Situation realistischer und vor allem auch in der Aussage wirkungsvoller gewesen.
Etwas gespalten bleibt der Eindruck auch, was die sprachliche Umsetzung des Romans betrifft. Diese scheint sich nämlich an ein deutlich jüngeres Publikum zu richten, als es der Themenbereich tut. Damit fehlt dem Roman die klare Ausrichtung auf das Zielpublikum. Die verhältnismäßig einfache sprachliche Umsetzung wird dem Anspruch von jungen Erwachsenen an einen Roman nicht ganz gerecht. Die thematische Komplexität hingegen richtet sich klar an ein etwas gefestigteres Publikum, dürfte also für manche 14-Jährige noch nicht die richtige Lektüre sein.
FAZIT
Johannes Groschupf legt einen intensiven Roman über wichtige Themen vor. Er wird jedoch dem Anspruch, der dadurch geweckt wird, nicht ganz gerecht. Jugendliche, die zu diesem Roman greifen, sollten auf jeden Fall die Möglichkeit haben, sich über das Thema mit fachkundigen Personen auszutauschen und die intensiven Eindrücke, die der Roman durchaus vermittelt, zu verarbeiten.
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