Das nachtblaue Kleid

  • Beltz & Gelberg, 2013, Titel: 'The Midnight Dress', Originalausgabe
Das nachtblaue Kleid
Das nachtblaue Kleid
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Stefanie Eckmann-Schmechta
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Jugendbuch-Couch Rezension vonMär 2015

Ein gefährliches Spiel – und über all dem lebt, lockt und atmet der Regenwald.

Wie das geheimnisvolle nachtblaue Kleid, vernäht, verbindet Karen Foxlee auf fast organische Weise die Atmosphäre des australischen Regenwaldes mit dem Erblühen einer jungen Frau, die seit ihrer Kindheit heimatlos ist. Bis sie die geheimnisvolle Näherin in deren, alten Haus antrifft – einem Haus, das selbst viele Geschichten erzählen kann. Aber vor allem die Geschichte der damals noch jungen Frau, die den Regenwald und die wilde Natur lieben lernte – wie Rose, die endlich angekommen zu sein scheint.

Rose hat es einfach satt mit ihrem alkoholkranken Vater von einem Ort zum anderen wandern. Das heißt, sie reisen mit einem alten Wohnwagen. Dabei gehen das Ansiedeln, der Aufenthalt und das plötzliche Verschwinden stets nach dem gleichen Muster ab. Zunächst versucht ihr Vater nicht mehr zu trinken, geht einer geregelten Arbeit nach, dann tut er es doch wieder und am Ende muss Rose mit ihm einen anderen Sehnsuchtsort suchen – wo der Himmel sie auch hinführen mag. Rose verachtet ihren Vater dafür, für die einsamen, ängstlichen Stunden wenn sie allein im Wohnwagen zurück blieb, noch zu jung, um auf sich selbst aufzupassen, wenn er betrunken dann doch irgendwann zu ihr zurückkam. Sie berichtet nach und nach, wie es war, als ihre Mutter gestorben ist. Wie schlimm es war, als ihr Vater einmal eine ganze Nacht fortblieb. Rose hat eine fast uneinnehmbare Mauer um sich errichtet. Sie hat gelernt, sich ganz auf sich selbst zu verlassen. Freundschaft scheint nur etwas für andere zu sein. Sie bleibt sowieso nie lange genug, um Freunde zu finden. Doch dieses Mal ist alles anders, denn die freundliche Pearl vermag ihre Mauern im Nu zu durchbrechen. Nach und nach lässt Rose sich auf das lebensfrohe, romantisch veranlagte Mädchen ein. Doch Pearl hat auch eine dunkle Seite. In ihrer ganzen Naivität verliebt sie sich in einen Mann, der viele Jahre älter ist als sie. Sie spielt mit ihm ein gefährliches Spiel und während er die Netze immer enger um sie zieht, ahnt Rose, dass es kein gutes Ende nehmen wird. Doch die hübsche, reizende Pearl zieht auch die Blicke eines anderen reifen Mannes auf sich – ausgerechnet Roses Vater interessiert sich plötzlich sehr für das Mädchen und möchte sie zeichnen. Währenddessen bereiten sich die Mädchen aus "Paradise" auf den großen Festzug zum Erntedankfest vor. Jede von ihnen will die schönste sein und es wird ein großes Gewese um das richtige Ballkleid gemacht. Da Rose, wie immer über keinerlei finanzielle Mittel verfügt, wendet sie sich an die alte Schneiderin "Eddie". Während sie durch das halb verfallene, uralte Holzhaus gehen, sammelt Eddie alles ein, was sie für das Kleid braucht. Rose ist zunächst skeptisch, doch als sie das nachtblaue Kleid sieht, muss sie es einfach haben. Es hat einen tiefen Riss in der Taille und es muss schon viele Jahre dort im Schrank gehangen haben. Doch Eddie ist zuversichtlich: Wenn man es wieder ganz auftrennt und dann neu zusammennäht, mit schwarzer Spitze und glitzernden Perlen, wird es wunderschön. Und so kommt es, dass Rose jeden Mittwochabend zu Eddie kommt, die ihr zeigt, wie man näht. Stich für Stich, Erinnerung für Erinnerung. Und Rose erfährt faszinierende Geschichten aus Eddies Leben. Dann vertraut Eddie Rose ein großes Geheimnis an. Doch darf Rose es auch mit Pearl teilen? Als sie es dennoch tut, wird sie bitter von ihrer Freundin enttäuscht. Der Verrat trifft Rose bitter und sie zieht sich vollkommen zurück, sucht Schutz und Halt bei der verständnisvollen Eddie. Als endlich der große Abend gekommen ist, verschwindet aber ein Mädchen, ein Mädchen im nachtblauen Kleid... Die Zeit wird bedeutungslos, Generationen verschmelzen und hinter all dem scheint ein großes, ein bedeutsames Geheimnis zu liegen.

Die Australierin Karen Foxlee beschreibt die Schwüle, die unmittelbare Nähe zu dem wilden Regenwald so eindringlich, dass es ihre Leser/innen unmittelbar dort hin katapultiert. Durch ihre Bilder, die sie mit einer einnehmenden Leichtigkeit in den Köpfen ihrer Leser entstehen lässt, erweckt sie den Regenwald in seiner ganzen Macht zum Leben, als sei er ein intelligentes Individuum. Er schweigt, er tost, er lauscht, er heißt willkommen... dies transportiert sie über viele, sehr eindringlich beschriebene Sinneseindrücke, die sie uns durch Roses Augen und Gedanken vermittelt. Dies verdichtet sich noch in der stickigen, dunklen Atmosphäre von Eddies Haus, das schon fast Teil des Regenwaldes geworden ist, denn seine Pflanzen haben längst auch Besitz von ihm ergriffen. Wenn Eddie nach und nach beim Nähen ihre Lebensgeschichte erzählt, von der sich Rose scheinbar zunächst nichts annehmen will, scheint die geheimnisvolle, zauberhafte Atmosphäre - vor allem durch die wunderbare Sprachmelodie von Eddies Erzählungen - zum Greifen nahe. Dabei werden nicht nur schöne Dinge angesprochen; auch in Eddies Leben gibt es Verwerfungen, Narben und Enttäuschungen. Doch es scheint immer ganz deutlich: Eddie hat ihren Platz gefunden. Anders als Rose, die einen Platz, der ihr Zuhause sein kann, immer noch schmerzlich vermisst. Eddies im wahrsten Sinne des Wortes "schräges" Heim wird jedoch mehr und mehr dazu. Hier fühlt sie sich beschützt und fasst – ohne es selbst wirklich zu merken – immer mehr Vertrauen zu der älteren Frau. Diese reagiert bewundernswert liebevoll und ruhig auf Roses anfänglicher Patzigkeit und Kühle. Sie gibt ihr etwas, das Rose nie in ihrem Leben hatte: Sie lässt ihr Zeit, um sich einzuleben. Eddies Geschichte hilft ihr dabei.

 

"Er hat Macht über uns", höre ich meine Mutter sagen. "Große Macht", sagte sie. So konnte man es wohl nennen, denke ich. Der Wald seufzte hoch oben im Laub und ließ seine Blätter auf uns fallen. Wir atmeten feuchte Luft, als hätten wir zuvor noch nie einen Atemzug getan, lauschten dem Lauf des Wassers, dem Plätschern und Trommeln wie einem gewaltigen Herzschlag.

 

Aufgrund seiner außergewöhnlich schönen und dichten Sprache, seinen außergewöhnlichen Spannungsbogen und den vielen, kleinen Verästelungen in der Geschichte werden sicherlich viele diesen Roman ebenso fesselnd finden wie ich. Und natürlich hat es einiges, was die weibliche Leserschaft auf vielen Ebenen faszinieren dürfte: Die Stoffe, ihre Sinnlichkeit, der Charakter eines Schnitts, die Nennung der verschiedenen Arten von Stichen zu Anfang eines jeden Kapitels. Die Reize der gerade erblühenden Schönheit der Mädchen in Verbindung mit den Eigenschaften der Stoffe setzt Karen Foxlee wirklich sehr kenntnisreich und begeisternd um, als sei die Kunst des Schneiderns auch eine Kunstform der Magie. Fast mag man es ihr glauben. Ebenso wie die Kraft der Natur, die unermüdlich ihre Äste, Wurzeln und Blätter nach unseren Heldinnen ausstreckt. Sie erzeugt in ihnen eine Wildheit, ein bis auf die reine Existenz zurückgesetztes Dasein, das Kräfte freisetzt – Freiheit bedeutet, die alles möglich sein lässt.

Diese bildhafte Sprache entsteht vielfach auch durch ihre ungewöhnlichen Gleichnisse, die aber so passend und eindringlich erscheinen, dass sie greifbar wirken. Sie macht Pflanzen, Berge, ja sogar Fabriken menschlich, indem sie ihnen menschliche Verhaltensweisen und Wesenszüge verleiht. Aber sie spricht auch Menschen Eigenheiten aus der Natur zu. Eddie scheint Wurzeln zu haben, denn sie spürt stets wer da ist. Das Innerste eines Mannes ist fahl wie eine Kröte oder sie bringt Dinge zusammen, die eigentlich keinerlei Berührungspunkte zu haben scheinen. Das macht ihre Bilder so stark und einprägsam. Junge Mädchen und nicht mehr ganz so junge Männer: Ein gefährliches Spiel – und über all dem lebt, lockt und atmet der Regenwald.

Die täglichen Regengüsse, die gewaltigen Gewitter, sintflutartiger Regen der tagelang nicht aufhört, die Hitze und der kühlende Abendwind, der durch Eddies Haus weht, wenn die beiden Frauen alle Fensterläden öffnen. All das greift Karen Foxlee wie in einem Refrain immer wieder auf – und ehe man sich´s versieht, schwingt man mit in dieser Melodie. Ich habe das Buch nur ungern zur Seite gelegt, weil es mich faszinierte, mich willkommen hieß – aber auch keinen Zweifel daran lässt, dass etwas Schreckliches passiert sein muss. Den tragischen Verlauf greift Karen Foxlee gleich auf den ersten Seiten auf. Wir schreiten in der Zeit voraus, einer Zeit, in der Rose – oder ist es Pearl? – bereits verschwunden ist. Nach und nach erlangen wir kurze Einblicke in die Ermittlungsarbeit der Polizei, folgen den Pfaden, den die Mädchen genommen haben, erneut.

Am Ende holt die Geschichte Karen Foxlees anfängliche Vorwegnahme der Ereignisse wieder ein. Und reicht dieser Spannungsbogen – man will ja immerhin wissen, was wirklich passiert ist – noch immer nicht, hält die Australierin die ganze Zeit über noch eine Überraschung im Ärmel verborgen.

Fazit

Das nachtblaue Kleid erzählt von dem Paradies und von seinen Abgründen für die Seele; es erzählt von überraschenden Orten, intensiven Begegnungen und einer fesselnden Lebensgeschichte. Wie der Regenwald Besitz von den Heldinnen ergreift, so nimmt der Roman von Karen Foxlee auch uns Leser gefangen. Von der ersten Seite an. Ein wunderschöner Roman!

Das nachtblaue Kleid

Karen Foxlee, Beltz & Gelberg

Das nachtblaue Kleid

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