Sternschnuppenstunden
Schon auf den ersten Seiten des Debüt-Romans von Louisa Reid wird klar, das ist kein Buch, das eine dramatisch-schöne Geschichte von zwei Schwestern erzählt, die gemeinsam der familiären Hölle entkommen, um dann - hübsch und selbstbewusst – fortan ein glückliches und freies Leben zu führen. Allein die Tatsache, dass sie, obwohl Zwillingsschwestern, so unterschiedlich wie Tag und Nacht sind, macht klar, dass nicht alles einfach "gut werden" wird. Denn Rebecca ist mit einem schweren Gendefekt zur Welt gekommen, der sie entstellt. Keinesfalls dumm oder zurückgeblieben, ist Rebecca aber immer als behinderte Zwillingsschwester behandelt worden. Und das bedeutet in diesem Fall: Keinesfalls liebevoll, sondern außerordentlich hartherzig, brutal und anklagend, als trüge das Mädchen die Schuld für ihre Erkrankung. Sie wird mehr als einmal von ihrem Vater krankenhausreif geschlagen. Die Ärzte schauen weg, denn der Vater ist Pfarrer einer christlichen Glaubensgemeinschaft die sehr extrem in ihrer Auslegung ist. Für Rebecca ist es unmöglich aus ihrer Hölle auszubrechen. Wo soll sie auch hin?
Nicht einmal ihre schöne Zwillingsschwester Hephzibah will sie mitnehmen in die Freiheit. Hephzibah war immer die Schöne und der Liebling, sie kann die Eltern manipulieren, sich an ihren unmenschlichen Regeln vorbeimogeln. Nicht selten steckt Rebecca dafür die Schläge ein. Hephzibahs Freiheitsdrang ist schließlich so groß, dass sie alle Bedenken über Bord wirft. Sie ist verliebt. Zum ersten Mal und sie will mit diesem wunderbaren Jungen in eine neues Leben fliehen. Und damit verstößt sie gegen alle Regeln, die ihr Vater in seinem extremen Glaubenswahn aufgestellt hat. Und sie wird dafür bezahlen...
Weniger Hoffnung als purer Überlebenswille
Die Grausamkeiten, die die Eltern ihren beiden Mädchen antun, sind wirklich nicht leicht zu ertragen. Von Schlägen, Misshandlung bis hin zum Missbrauch. Der Vater entfremdet die Mädchen der Welt vollkommen. Sie dürfen keine normalen Teenager sein, alles, was ein normales Leben ausmacht, ist ihnen verboten. Sogar der Schulbesuch - zunächst. Zum ersten Mal können sich die Mädchen ein Bild von der Außenwelt machen und laufen ständig Gefahr, bestraft zu werden.
Der Herr Pfarrer lässt seine Mädchen büßen, und man fragt sich wofür? Und warum duckt sich die Mutter ständig weg? Warum steht sie ihren Mädchen nicht zur Seite, wofür bestraft sie sich selbst?
Es ist spannend zu lesen, auf welche Weise die Außenwelt Notiz von den unerträglichen Zuständen im Pfarrhaus nimmt. Die einen ignorieren, was sie vor ihren Augen sehen, die anderen versuchen heimlich zu helfen. Erst am Ende finden sich Menschen die sich offen auflehnen.
Am meisten bleiben Rebeccas Schilderungen im Gedächtnis haften, ihre Perspektive nimmt auch den Größten Teil des Romans ein. Hin und wieder fließen – markiert durch die etwas blassere Schrift – die Erlebnisse aus Hephzibahs Sicht ein, die zeigen, wie sie die Situation einschätzt und wie sie versucht, sich von allem zu lösen.
Es ist an Rebecca den Bann ihrer Eltern aufzuheben, um zu überleben.
Es ist jedoch Rebeccas Entwicklung, die hier im Mittelpunkt steht. Über lange Strecken gibt es keinerlei Lichtblick, scheint es für Rebecca kein Entkommen zu geben. Das fand ich als Leserin so manches Mal zermürbend. Oftmals scheint es, dass sich alles nur wieder und wieder im Kreis dreht. Und es stellt sich die weitere Frage, warum bleibt Rebecca? Warum geht sie nicht einfach fort und verlässt diese Hölle?
Die Antwort darauf liegt in allem, was Rebecca bisher ausgemacht hat. Rebeccas Welt ist so anders, so der Realität "entrückt", dass sie viele Dinge gar nicht begreift. Alles, was ein normales Mädchen in ihrer Situation tun würde, setzt voraus, dass es ein normales Leben gab. Doch weder das hatte Rebecca noch das Vertrauen zu anderen Menschen.
Louisa Reid beschreibt diese Isolation und Hilflosigkeit in ihrem Debüt-Roman sehr gut und eindringlich. Der Blick in die Seele des zutiefst verunsicherten und vernachlässigten Mädchens zeigt auf verblüffend klare Weise, dass es trotz aller Grausamkeit auch immer eine Bindung zu den Eltern gibt, die wie ein Bann auf ihr liegt, egal wie schlecht sie sie behandeln. Die Einblicke in Rebeccas Gedanken sind oft bildhaft, aber immer sehr klar und ehrlich. Einige ihrer Andeutungen die sie im Verlauf der Geschehnisse macht, ergeben erst am Ende einen traurigen Sinn. Louisa Reid gelingt es dennoch ein positives, hoffnungsvolles Ende für ihre Heldin zu finden. Ohne das zu leugnen, was gewesen ist. Aber dennoch mit allem, was sie über die vielen schrecklichen Jahre auch stark gemacht hat. Das ist spannend zu lesen.
Aufgrund einiger ziemlich bedrückenden Schilderungen häuslicher Gewalt, sowie dem doch ziemlich komplexen Thema – das Louisa Reid auch in der ihm angemessenen Weise schildert, indem sie nichts beschönigt – würde ich das Buch eher Jugendlichen ab 16 Jahren empfehlen, die gerne auch mal ein anspruchsvolleres Buch lesen und den Mut haben, sich auch auf weniger schöne, aber deshalb nicht weniger fesselnde Entwicklungsgeschichten einzulassen.
FAZIT
Louisa Reids Debüt-Roman ist ein Buch, das im Gedächtnis bleibt. Dabei ist die Geschichte der beiden Schwestern wirklich keine leichte Kost. Hat man aber einmal Zugang gefunden, ist der Roman ungemein fesselnd: Weil er viele Rätsel aufwirft und Abgründe enthüllt – auch und besonders die der menschlichen Seele – und weil er am Ende auch Antworten zu geben vermag.
Ein besonderes Tagebuch, das schon in seiner Optik neugierig macht
Lara ist fünfzehn und hat es wirklich nicht leicht. Sie selbst glaubt von sich ein hoffnungsloser Fall zu sein und schreibt ihre Erlebnisse und Gedanken in einem Tagebuch auf. Und eben dieses scheinen wir Leser nun in den Händen zu halten. So sieht es zumindest aus: Wie so oft hat der Magellan Verlag auch dieses Mal ein gutes Händchen für die Cover-Gestaltung bewiesen. Denn das Jugendbuch-Debüt von Rachel McIntyre sieht einem Tagebuch sehr ähnlich, inklusive Format, Gebrauchsspuren, Vorsatzpapier und kleinen Bordüren an den Rändern. Das spricht (große und kleine) Mädchen natürlich auf Anhieb an und weckt ihre Neugierde. Ein Tagebuch ist immer etwas spannendes, weil es so persönlich und so ungeschminkt ehrlich ist. Eines schon mal vorweg: Ihr werdet mit diesem Roman für eure Neugier mehr als belohnt.
Humor und Tragödie liegen nahe beieinander
Da mögen viele wahrscheinlich sagen: Was auch sonst in einem Teenager-Leben? Doch in Laras Fall ist es wirklich keine Spitze auf die großen und kleinen "Probleme" eines heranwachsenden Mädchens, das sich Gedanken über ihr Aussehen macht, über Jungs grübelt und vielleicht noch über Lehrer oder ihren Notendurchschnitt. Das sind wirklich nicht die drängenden Fragen für Lara. Die Firma ihres Vaters ist pleite. Das schöne, große Haus musste verkauft werden, ihre Eltern haben eine schwere Beziehungskrise, der Vater versenkt sich mehr und mehr in den Alkohol und in die Einsamkeit, die Mutter muss Putzjobs annehmen, um die Familie irgendwie über die Runden zu bringen. Auch Lara muss ihren Beitrag leisten – und das nicht zu knapp. Abgesehen davon, dass sie in aller Herrgottsfrühe Zeitungen austrägt, ist sie auch für vieles im Haushalt verantwortlich, auch für den Dreck, den ihr kleiner Bruder und ihr Vater machen. Sie wird von der überforderten Mutter häufig zum Sündenbock gemacht. Beschwert sich aber nie.
Lara schildert ihr Leben zwar auf sehr kritische aber doch sehr humorvoll-pointierte Weise. sie ist schlagfertig, sehr wortgewandt und man "hört" ihr gerne zu, wenn sie von den vielen kleinen und großen Pleiten in ihrem Leben erzählt - und wie sie sie mit Fassung, ja, fast Würde erträgt. Auch die zahlreichen Fehlentscheidungen, die ihre Eltern seit der Firmenpleite getroffen haben: In der Stadt zu bleiben, in das kleine, schäbige Haus zu ziehen, statt zu ihrem Onkel, der Laras Dad eine gute Arbeit bieten könnte. Aber die größte Fehlentscheidung für Lara ist, dass sie auf der teuren Privatschule bleiben soll. Dabei wäre es ihr viel lieber auf eine normale Schule zu gehen, weg von den fiesen reichen, eingebildeten Töchtern, bei deren Eltern ihre Mom auch noch putzen gehen muss. Aber noch schlimmer: Sie wird von ihnen gemobbt – und zwar nicht auf die nervige Tour, die man irgendwie aussitzen kann, sondern auf die ganze schlimme Weise. Je mehr Lara sich wehrt, desto unerträglicher werden die Übergriffe.
Lara schweigt also. Sie schweigt, als ihr geliebter i-Pod zerstört wird, als sie angespuckt und geschlagen wird, selbst, als sie in aller Öffentlichkeit erniedrigt wird.
Dann eines Tages ist er da: Mr Ben Jagger. Er ist jung, sieht unverschämt gut aus und er scheint Lara sehr zu mögen. Und er ist ihr Lehrer. Lara beginnt für ihn rückhaltlos zu schwärmen. Als Ben erste Annäherungsversuche unternimmt, ist es, als würden alle ihre Träume wahr werden. Während ihre Eltern mit ihrer Trennung beschäftigt sind, trifft sie sich heimlich mit Ben und es kommt zu dem, das es zwischen Lehrer und Schülerin nicht geben darf. Auf keinen Fall.
Liebe, die blind und taub macht
In ihrer Verliebtheit nimmt Lara keine Warnsignale aus der „Außenwelt" mehr wahr. Sie fühlt sich in ihrer Liebe wie eine bedrohte Gattung, die sich vor der bösen Welt verstecken muss. Und jeder der mal verknallt war, wird es kennen, das ewige Abwägen und Werten der Ereignisse. Wobei im ersten Moment alles ganz klar zu sein scheint, um es in der nächsten Sekunde wieder ins Gegenteil umzukehren:
"Er liebt mich. Er liebt mich nicht. Verdammt, der Mann ist Lehrer! Warum sollte er seine Karriere für einen Knutschquickie mit der Königin der Unberührbaren aufs Spiel setzen? ... klar... dass ich das alles fehlinterpretiert habe."
Dieser innere Konflikt und auch die familiäre Situation lähmen Lara zunehmend, während Molly sie mehr und mehr zur Außenseiterin macht. Und es gibt viele Missverständnisse, die eine Erwachsene sicherlich leicht in einem Gespräch ausräumen könnte, während Lara sich immer tiefer in ihre Vorstellung versinkt, dass sie es der Familie schuldig ist alles zu ertragen, nur, damit Laras Mutter die Arbeit behält.
So sehr erniedrigt und von allen alleingelassen, ist Ben Jagger der Ausweg. Wir erfahren die Geschichte nur aus Laras Sicht und fast möchte man ihr glauben, dass sie eine Chance haben, dass es okay ist. Doch mir selbst war die Romanze nicht geheuer. Was die englische Autorin in ihrem Debüt wirklich außerordentlich gut hinbekommt, ist die Entwicklung Laras – und auch die Wendung, die Laras Geschichte am Ende nimmt. Dabei lässt sie sich zwar Zeit, wird aber nie langatmig, weil der Enthusiasmus der Protagonistin einfach ansteckend ist.
Die Geschichte wirkt insgesamt authentisch, wenn auch so manches Mal ziemlich heftig. Rachel McIntyre schildert auch die zerbrechlichen Momente zwischen ihrem Vater, der ausgezogen ist und ihrem kleinen Bruder, der fast daran zerbricht, sehr glaubwürdig und berührend. Und dennoch ist jederzeit spürbar, dass diese Geschichte aus der Sicht eines 15-jährigen Mädchens erzählt wird, egal wie clever und wortgewandt es ist.
Zusammengefasst, kann man den Roman in Tagebuchform in drei Abschnitte unterteilen, wobei die Spannungskurve im Mittelteil, als die Romanze tatsächlich Realität wird, am mitreissendsten ist. Am Ende bedient sich Rachel McIntyre eines Tricks, bei dem sie dann doch die Zeit etwas rafft. Es ist, als würde sie uns – gemeinsam mit Lara – aus einem schönen Traum hinaus begleiten, zurück in die gar nicht mehr so traurige Realität.
FAZIT
Rachel McIntyres Debüt ist einfach spannend, witzig und berührend. Das mag jetzt leicht klingen, aber Sternschnuppenstunden hat beides: Den Humor und den Wortwitz, ohne die es zu trocken wäre, aber auch den nötigen Tiefgang, um die Geschichte glaubwürdig zu machen. Alles also, was ein guter Roman braucht.
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