Glücksdrachenzeit
Seitdem man vor mehr als einhundert Jahren die menschenleeren Vereinigten Inseln von Amerika entdeckt und besiedelt hat, währt der Kampf der Rithmatiker gegen die Kreidlinge, unheimliche flache Lebewesen, die Menschen angreifen, auffressen und töten. In speziellen Lehranstalten werden die neuen Kreidemagier ausgebildet, bevor sie zum Turm in Nebrask entsandt werden, um ihre 10-jährige Dienstzeit im Kampf gegen die Kreidlinge anzutreten. Doch nur wer während der Weihe ausgewählt wird, hat die Gabe mit Kreidestrichen Grenzen und Angriffswellen zu zeichnen, um dem Ansturm entgegen zu treten.
Joel gehört nicht zu den Auserwählten
Er, der nichts lieber tut, als sich mit der Rithmatik zu beschäftigen, der lernt und dem die Fähigkeit, fast perfekte Kreise zu zeichnen angeboren ist, ausgerechnet ihm wurde die Gabe verweigert. Trotzdem nutzt er jede Gelegenheit, sich in die Vorlesungen zu schleichen um unerlaubt Wissen aufzuschnappen. Das geht so lange gut, bis ein neuer Professor, direkt aus Nebrask kommend, Professor Fitch herausfordert, und ihm im Duell die Professur abnimmt. Und der neue Dekan duldet keinerlei unberechtigte Mitlauscher in seinen Vorlesungen. Vorbei ist es mit den ergaunerten Lehrstunden, es droht die Tristesse von Mathematik und Geschichte.
So einfach aber will Joel sich nicht geschlagen geben. In den Sommerferien gelingt es ihm eine Assistentenstelle bei Professor Fitch zu ergattern – ein Traum wird wahr, doch dann muss er feststellen, dass die wohl nervigste und untalentierteste Studentin auch beim Professor abgeladen wurde – für Melody stehen Nachhilfestunden an.
Als dann aber Studenten verschwinden und Menschen ermordet werden, macht sich das so ungleiche Trio daran, den Verbrechen auf den Grund zu gehen – ein geschasster Professor, ein As in der Theorie, ein Versager in der Praxis, dazu eine untalentierte Studentin und ein versierter Junge ohne die besonderen Kräfte stehen dem ultimativen Bösen gegenüber – das hört sich nicht wirklich gut an ...
Ein All-Age Roman mit unbestreitbaren Stärken
Brandon Sanderson gilt zu Recht als einer der großen Fantasy-Autoren unserer Zeit. Mit seinen Zyklen – die "Nebel Saga" sowie die "Sturmlicht-Chroniken" – hat er sich in die Herzen der Leser geschrieben, geadelt wurde er, als er nach dem viel zu frühen Tod Jordans dessen "Wheels of If" Reihe (dt. Das Rad der Zeit) fertigschreiben durfte.
Vorliegend legt er uns einen packenden, aber nicht wirklich abgeschlossenen Roman vor. Es ist eigentlich eher ein All-Age Buch als ein Jugendbuch geworden, auch wenn zwei junge Menschen im Zentrum des Geschehens stehen. Mit Joel – dem talentierten aber unbegabten - und Melody - der untalentierten aber mit der Gabe bedachten Rithmatistin - bietet er uns ideale Erzähler, in deren Haut wir bei der Verfolgung der abenteuerlichen und dramatischen Geschehnisse schlüpfen können.
Seine unbestrittenen Stärken hat der Roman, neben den eingängigen, überzeugend dargestellten Figuren in der bestechenden Idee der Rithmatisten per se. Das ist eine Magie, wie ich zumindest sie bislang nicht kannte: Zweidimensionale Wesen, die Krieg gegen die Menschheit führen. Dazu eine Welt, die ein Aztekenreich in Südamerika beherbergt; in der Europa bedrängt, vielleicht gar untergegangen ist; in der China eine legendäre, die Region beherrschende Supermacht darstellt und in der in Nebrask der Kampf gegen die unheimlichen Wesen geführt wird, das ist von seltener Selbstständigkeit.
Gebannt verfolgen wir die Entwicklungen, die Ermittlungen der Verbrechen und die Suche nach dem Verantwortlichen. Dass die Handlung dann abbricht, als dieser enttarnt ist, verweist auf einen noch nicht angekündigten zweiten Band.
Fazit
Insgesamt zeigt auch dieser Roman, dass Sanderson einer der eigenwilligsten und eigenständigsten Erzähler des Genres ist, der ebenso mitreißend wie einfühlsam zu erzählen weiß.
Ein solider Entwicklungsroman ohne Schwarz oder Weiß
Die fünfzehn-jährige Nellie hängt sehr an ihrem großen Bruder Kolja. Als dieser von zu Hause wegläuft, fühlt sie sich im Stich gelassen und beschließt deshalb, ihm nachzufahren und ihn zurückzuholen. Eine abenteuerliche Reise beginnt. Wird es ihr gelingen, Kolja zu finden und ihn zu überreden, nach Hause zurückzukommen?
Die Mutter der beiden, Nellie und Kolja, ist ohnehin schon psychisch angeschlagen und fällt nach Koljas Verschwinden in eine Depression. Um wieder Kraft zu schöpfen, fährt zu einer Freundin. Der Vater hingegen, bekommt überraschenderweise von Freunden ein Angebot, an einem Segeltörn teilzunehmen. Somit sind beide Eltern aus dem Weg. Beste Voraussetzungen, um Nellies Plan, ihren geliebten älteren Bruder zurückzuholen, in die Tat umzusetzen.
Da Nellie zu jung für einen eigenen Führerschein ist, beschließt sie, Kolja per Anhalter nach Südfrankreich nachzufolgen. Kein einfaches Unterfangen, noch dazu in Begleitung des Familienhundes Jackson. Zum Glück rettet sie eine alte, verrückt gekleidete Dame namens Miss Wedlock an einer Autoraststätte aus einer brenzligen Situation. Miss Wedlock will zufälligerweise ebenfalls nach Avignon, und zwar zum dortigen Theaterfestival, um dann weiter ans Meer zu fahren. Mit dem urigen Auto, einem Uraltmorris, geht die Fahrt gemeinsam weiter.
Unterwegs gabeln sie noch den Jungen Elias auf, der auf seinem Arm ein Glücksdrachentatoo trägt und in den Süden, nach Marokko, will. Nach einem Umweg über die Schweiz kommt das ungleiche Trio endlich in Avignon an. Doch die Stadt, die Nellie und auch Kolja von einem früheren Ferienbesuch kennen, ist wegen des Theaterfestivals von Touristen überschwemmt. Wie soll sie in diesem Menschengewimmel nur ihren Bruder finden?
Nellie irrt unermüdlich durch die engen Gassen und Straßen der Stadt und zeigt überall das Foto ihres Bruders herum. Schließlich ist es Jackson, der Kolja zufällig in einer Menschenmenge entdeckt. Doch dieser ist wenig erfreut, Nellie zu sehen. Auf dem Weg in den Süden hat Kolja Antoine kennengelernt, der ihm vorgeschlagen hat, schnell und leicht Geld zu verdienen und so ist dieser un/wissentlich? In Antoines kriminelle Geschäfte verwickelt worden. Aber etwas ist schiefgelaufen und jetzt wird Kolja von Antoines Bande verfolgt.
Nellie ist fassungslos: ihr von ihr vergötterter Bruder soll nur ein fieser Krimineller sein? Doch schon bald überschlagen sich die Ereignisse, beide fallen in die Hände der Bande und plötzlich geht es auf einmal um Leben und Tod...
Eine vielschichtige Handlung, die auch jenseits der Story bereichernd ist
Nicht umsonst hat Katrin Zipse mit ihrem ersten Roman für Jugendliche gleich den hochdotierten Thadäus-Troll-Literaturpreis der Stadt Stuttgart gewonnen. Ihr beruflicher Hintergrund als Dramaturgin und Redakteurin beim Süddeutschen Rundfunk kommt ihr zu Gute, wie sie geschickt und unverkrampft die vielschichtige Handlung präsentiert: die Haupthandlung erzählt Nellie selbst aus ihrer Sicht, hinzukommen Erinnerungsfetzen aus ihrer Kindheit und kurze Passagen, in denen sich Nellie an ein zunächst unbestimmtes "Du" wendet. Diesen schließen sich Eindrücke aus Miss Wedlocks Kindheit an, wie sie während des zweiten Weltkrieges bei einem Bombenangriff ihre Mutter und kleinere Schwester verlor und lange lebendig unter Trümmern begraben war, bis sie schließlich gerettet wurde.
All diese verschiedenen Handlungsebenen sind für das Verstehen der Handlung wichtig, erklären sie doch was in Nellies Elternhaus nicht stimmt und warum Kolja sich schließlich überfordert fühlt, warum er dort keinen Platz mehr für sich findet und von zu Hause wegläuft. Die Rückblenden aus Miss Wedlocks Kindheit bereichern nicht nur die Handlung und erklärten ihre "Hirngespinste", wie Nellie es nennt, sie dienen auch als beeindruckende Zeitzeugenberichte, die dem heutigen Leser eine wichtige Periode der deutschen Geschichte näher bringen.
Diesen vielfältigen Handlungssträngen wird auch der unterschiedliche Einsatz der Sprache und Erzählweise gerecht: mal locker und flippig erzählte Abschnitte, (Nellie beschreibt das Geschehen aus ihrer Sicht) wechseln sich mit eindringlichen (Erinnerungen aus Nellies Kindheit) und atmosphärisch dichten (Miss Wedlocks Erinnerungen an die Bombennacht) Passagen ab.
Vieles wird vor allem in diesen Rückblenden nur angedeutet, was den Leser in die Handlung miteinbezieht, indem er dazu herausgefordert wird, sich seine eigenen Gedanken zu machen.
Ein solider Entwicklungsroman ohne Schwarz oder Weiß
Alle Charaktere wirken überzeugend und aus dem Leben gegriffen. Die Hauptperson Nellie macht einen nachvollziehbaren Entwicklungsprozess durch: so reift sie von der kleinen Schwester, die ihrem großen Bruder blindlings vertraut zur selbstbewussten jungen Frau, die sich aus der Abhängigkeit von ihrem Bruder löst und diesen in seinen Motiven schließlich hinterfragt. Auch die Figur des Koljas wirkt realistisch, wie im wirklichen Leben gibt es kein Schwarz und Weiß und es bleibt dem Leser selbst überlassen, wie er diesen einordnet.
Die liebevolle Gestaltung des Buches mit den fröhlichen weißen Punkten auf dem hellroten Schutzumschlag findet sich auch auf dem Bucheinband wieder und macht es zu einem echten "Hingucker", den man sofort in die Hand nehmen will. Die behandelten Themen wie Familientragödien und der Umgang mit Verlusten sind zwar ernst, jedoch, viel Situationskomik, die liebenswerten Charaktere und der ungekünstelte Schreibstil sorgen für Lockerheit und viel Lesevergnügen.
FAZIT
Ein fesselnder, ehrlicher Jugendroman, der beim Leser noch lange nachwirken wird.
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