Halbe Helden
Neben unserer Welt, dem Venedig, das wir alle aus Film und Fernsehen, so manches Mal auch aus persönlicher Erfahrung kennen und lieben, gibt es ein Reich, das parallel zu den Gassen der alten Lagunenstadt existiert. Es ist die Welt der verlorenen Gedanken, der zerschlagenen Träume, der unvollendeten Geschichten und vergessenen Wünsche. Man nennt diese Welt die Scherbenwelt. Einst, bevor die Menschen das Träumen vergaßen, bevor sie sich ganz auf die Hektik des Tages, der Wochen, Monate und Jahre konzentrierten, ahnten sie, dass es neben der ihnen bekannten Welt das Reich der Träume gab.
Lange ist es her, da residierte dort, im Palast der Scherben, der Zauberer Calderon. Doch dann veränderte er sich, nahm seinen Sitz im weißen Turm von San Michele ein und stürzte sich und seine Umgebung in die Finsternis. Er riss sich das Herz aus der Brust und pflanzte sich stattdessen Scherben ein. Doch Träume sind machtvoll, sie sind wichtig und keiner träumt wie die Kinder. Um sein Reich und sich selbst nicht zu verlieren, muss Caldoron dafür sogen, dass die Macht der Träume nicht abbricht.
Sagte ich schon, dass Kinderträume die stärksten Träume überhaupt sind?
Jetzt verschwinden Kinder aus den Gassen Venedigs, und keiner, weder Freunde noch Eltern scheinen die Entführten zu vermissen. Ich heiße Milos, besuche meine Großmutter und träume laut Lehrern und meinem Onkel viel zu viel. Kaum in der Lagunenstadt angekommen, widerfährt mir gar Merkwürdiges. Ich sehe Nixen und merkwürdige Schatten, und nur Nív der Rabenwandler verhindert, dass ich in ein eisiges Grab gezwungen werde. Es heißt, dass nur jemand wie ich, ein träumendes Menschenskind Calderon aufhalten kann - doch dann vergessen mich meine Lieben und der Angriff der Schatten beginnt ...
Eine neue Garde
In den letzten Jahren hat sich eine neue Garde talentierter Autoren aufgemacht, die Fantasy um etwas ganz Eigenes zu bereichern. Abseits von Zwergen, Elfen und Zauberern, wie wir sie aus den Bestsellern von Verfassern wie Markus Heitz, Bernhard Hennen oder Michael Peinkofer kennen, setzen sie auf etwas ganz Anderes - auch ihre eigenständige Fantasie.
Statt fast schon uniform immer wieder einander ähnelnde Geschichten in vertrauter mittelalterlicher Umgebung anzubieten, lassen sie sich im wahrsten Sinne des Wortes phantastische Umgebungen einfallen, in denen sie ihre eigenständigen, innovativen Handlungen platzieren. Atmosphärisch dicht, stilistisch ansprechend und mit viel Gespür für ihre Gestalten, entführen sie ihre Leser und Fans ein ums andere Mal.
Neben Kai Meyer, Christoph Marzi und Nina Blazon hat sich auch Gesa Schwartz in den letzten Jahren in diese hehre Riege von ganz eigenen Verfassern eingereiht. Nach ihrem Wechsel von Egmont-Lyx zu cbj legt sie mit vorliegendem Titel bereits ihren zweiten Roman im All-Age Imprint von Random House auf.
Nach New York, der Stadt am Atlantik situiert sie dieses Mal ihren Plot in der Mittelmeer-Metropole Venedig an. Und ich muss gestehen, dass nur dort, in den Gassen und Kanälen der langsam versandenden Lagunenstadt die Handlung denkbar ist. Gerade das besondere Flair der Stadt, die Geschichte der Gebäude, die besonderen Menschen (und Katzen) die uns dort begegnen sind für die Handlung unabdingbar.
Die Storyline selbst nimmt uns schnell gefangen. Milos, einmal mehr ein einsames Waisenkind, das sich lieber in der Welt der Bücher verliert, als mit Altersgenossen zu chillen oder WhatsApp Nachrichten zu versenden, macht uns den Einstieg in die Handlung sehr einfach. Gut können wir uns in das Mädchen hineinversetzen, erleben ihre Liebe zur Stadt, zur Oma aber auch ihr Schrecken vor den Ereignissen, die ihr widerfahren, mit. Hier zieht uns die Autorin fast mühelos in den Plot, erhalten wir über und durch unsere Erzählerin einen wunderbar stimmigen, atmosphärisch dichten Zugang zu den Geschehnissen.
Fazit
So besticht die Autorin erneut mit einem märchenhaften Plot, der sich für die Macht der Träume stark macht, präsentiert uns eine ergreifende Geschichte und punktet mit einem phantastischen Setting.
Ein Plädoyer für mehr Toleranz
Dane lebt zusammen mit seiner Mutter in einer kleinen Stadt. Einer Mutter, die zwar ein goldenes Händchen hat, wenn es darum geht, bei Lotterien zu gewinnen, die ihre Gewinne aber nie einlöst. Und eine Mutter, die ihrem Sohn verschweigt, wer sein Vater ist. Dane, der sich in vielem allein gelassen fühlt, lehnt sich auf. Nicht gegen die Mutter - aber gegen jede mögliche Gesellschaftsnorm. Meistens mit den Fäusten...
Beim Disziplinarrat der Schule ist Dane ein Dauergast - obwohl er ein guter Schüler ist, droht ihm nun der Schulverweis. Da taucht Billy in Danes Leben auf. Der Junge mit dem Downsyndrom ist einfach so da - und schafft es scheinbar mühelos, den sorgfältig aufgebauten Panzer von Dane zu durchbrechen. Um Disziplinarmaßnahmen zu umgehen, kümmert sich Dane um Billy. Obwohl er sich anfänglich dagegen zu sträuben versucht, findet er in ihm einen Freund. Billy stellt Fragen, bittet um Hilfe und nötigt seinen starken Freund da und dort auch mal unverhohlen. Denn Billy möchte seinen Vater finden und dazu braucht er Dane. Je näher sich die beiden ungleichen Jungs kennen lernen, desto mehr profitieren sie vom anderen. Denn jeder hat seinem Freund eine ganze Menge mitzugeben. Das merken sie nicht erst dann, wenn sie sich auf der Suche nach Billys Vater ganz auf sich verlassen können müssen.
Dass bei diesem Roman zunächst der Verdacht aufkommt, die Idee könnte sich an Werke wie etwa "Ziemlich beste Freunde" anlehnen, lässt sich kaum vermeiden. Tatsächlich ist die Handlung ähnlich strukturiert. Damit hat es sich aber schon. Halbe Helden ist eine eigenständige Geschichte, die so wunderbar erzählt ist, dass sie einen Vergleich mit ähnlich gelagerten Geschichten nicht zu fürchten braucht. Erin Jade Lange erzählt mit einem so warmherzigen Humor, dass selbst die düsteren Passagen des Buches zu einem eingängigen Leseerlebnis werden. Quasi vom Leser unbemerkt hält die Autorin ein starkes Plädoyer für mehr Toleranz. Und für genaueres Hinsehen.
Da ist zum einen Dane. Er ist auf den ersten Blick ein typischer pubertierender Junge, der seine Kräfte austestet. Auf den zweiten Blick wird er zu einem empfindsamen Kind, der den Tick seiner Mutter mit den Losen nicht versteht und noch weniger begreifen kann, weshalb sie ihm das verschweigt, was ihn bewegt: Wer sein Vater ist. Seine Verunsicherung und seine Suche nach seiner Identität bringen Dane dazu, sich über die Fäuste Luft zu machen. Erst die Verantwortung für den wesentlich schwächeren Billy - und sein tief in ihm verwurzeltes und nun erwachendes soziales Bewusstsein - geben dem Jungen neuen Halt und lassen ihn reifen. Aber auch Billy profitiert von der Freundschaft. Nicht, weil ihm Dane letztlich gegen die gewaltbereiten Schulkameraden beisteht oder mit ihm nach dem Vater sucht. Sondern weil Dane in ihm einen gleichwertigen Menschen sieht und keine Berührungsangst hat. Dane nimmt Billy so wie er ist - ein Mensch, der durch das Down-Syndrom etwas anders ist, als alle anderen. Der schlagfertig, schlau und vor allem sehr direkt ist und seine Gefühle offen auf einem Tablett serviert. So wird aus den zwei Freunden ein starkes Gespann, das im Laufe des Romans im jeweils anderen ungeahnte Fähigkeiten und Seiten weckt.
Halbe Helden ist also ein Buch, das Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen anspricht. Allerdings muss man sich über das Zielpublikum von 14-17jährigen Gedanken machen. Der Stoff passt durchaus zu diesem Alter, könnte auch problemlos Jugendlichen ab 12 Jahren präsentiert werden. Die Schreibweise von Erin Jade Lange hingegen richtet sich eher an ein jüngeres Publikum, eben an 12- bis etwa 15jährige. Das etwas kindliche, das die Autorin durch ihre humorvolle Note einbringt, wirkt hier nicht ganz optimal eingebracht.
Halbe Helden von der US-amerikanischen Autorin Erin Jade Lange - ins Deutsche übersetzt von Jessika Komina und Sandra Knuffinke - wurde von der Kritikerjury für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2016 nominiert.
FAZIT
Halbe Helden ist berührend, bezaubernd und tiefsinnig. Eine Auseinandersetzung mit dem Buch lohnt sich - unabhängig vom Alter des Lesers - auf jeden Fall. Die Autorin hat wunderbare Charaktere geschaffen und eine lebensbejahende und doch keine überzeichnete Happy-End-Geschichte erzählt.
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