Sprachlich ist der Roman von Matthew Quick durchgehend auf einem hohen Niveau
Welche Macht hat ein Buch?
Ein längst vergriffenes Buch ist Dreh- und Angelpunkt dieses Coming-of-Age-Romans von Matthew Quick. Es erzählt davon, dass Literatur die Kraft hat, das Leben dramatisch zu verändern.
Nanette ist erfolgreich: In der Schule, im Fußball, bei ihren Freunden beliebt … ihr zukünftiger Weg scheint sich schon in den schönsten Farben abzuzeichnen. Doch obwohl alles in ihrem Leben so perfekt aussieht, ist Nanette unzufrieden. Sie empfindet keine Nähe zu anderen Menschen, findet ihre Ziele im Leben banal. Sogar ihre Eltern sind von ihr ebenso weit entfernt, wie sie es zueinander sind.
Sie hat auch nicht viel gemein mit ihren Mitschülerinnen, die sie nerven, weil sie außer Jungs und Alkohol nicht viel im Kopf zu haben scheinen. Nanette sieht, wie sie sich die anderen Mädchen erniedrigen und ausnutzen lassen, nur um bei den Jungs beliebt zu sein. Sie sucht also weder deren Gesellschaft noch deren oberflächliche Gespräche und nimmt ihr Mittagessen lieber mit ihrem Englischlehrer ein. Nanette ist auf der Suche – nach Antworten, neuen Perspektiven, anderen Wegen. Ihr Lehrer erkennt sich selbst in ihr - als er jung war - und schenkt ihr den Kultroman „Der Kaugummikiller“, der ihn einst sehr geprägt hat. Damit verändert er Nanettes Leben.
Das Ende der Kindheit und die Suche nach… ja, was?
Nanette ist vollkommen hingerissen von der Hauptfigur „Wrigley“. Das Buch stellt auf einmal Verbindungen und Parallelen zu ihr her, wo es sonst nie welche begeben hatte. Sie sucht den Autor des außergewöhnlichen Romans auf. Mr. Booker ist erst nur widerstrebend bereit, doch dann lässt er sich auf die ungewöhnliche Freundschaft ein; allerdings nur unter der Bedingung, dass er nie über sein Buch sprechen zu muss. Schließlich macht Mr. Booker Nanette mit Alex bekannt. Alex ist in Nanettes Alter, sieht gut aus und schreibt wunderschöne, sehr außergewöhnliche Gedichte. Sofort funkt es zwischen ihr und dem scheuen, hochgewachsenen Dichter.
Eine unglaublich schöne und intensive Zeit beginnt. Nanette verändert alles in ihrem Leben, was nicht bei allen gut ankommt. Doch das Leben der anderen geht auch weiter. Es stellt sich heraus, dass ihre Eltern sich trennen werden und dass ihr Freund Alex weit größere Probleme hat als zunächst geahnt.
Nicht zuletzt durch die sehr wörtlich genommenen Botschaften des Romans dreht Alex vollkommen durch, als er sich für einen Jungen einsetzt, der von seinen Mitschülern gemobbt wird. Er will aufbegehren, will nicht länger still halten, er ist auf einer Mission, die sich aber sehr unglücklich mit einer seiner instabilen Psyche verbindet. Kein noch so vernünftiges Wort, keine noch so gut gemeinte Brücke, will Alex annehmen und landet schließlich in einer Art Besserungsanstalt. Die folgenden Ereignisse sind tragisch – und damit hat sich wieder einmal der unheilvolle Kreis geschlossen, etwas, das Mr. Booker unter allen Umständen hatte verhindern wollen. Kein Wunder also, dass er stets versucht hat, das Buch vom Markt zu bekommen.
Am Ende ist Nanette von allen enttäuscht; von Alex, ihren Eltern und ihren Mitschülern. Hinzu kommt auch noch, dass Ihr großes Vorbild, Mr. Booker, den sie so sehr idealisiert hat, sich als Feigling entpuppt, der jede Verantwortung von sich weist und sich hinter einer Wand von klugen Wörtern versteckt.
Die Tragweite all dessen ist für Nanette nicht auszuhalten, weshalb sie schließlich bei einer Psychologin landet.
Fortan spricht Nanette von sich nur noch in der dritten Person. Sie soll das „Ich“ töten.
Kann man ein Buch 1:1 auf das reale Leben übertragen?
Der „Kaugummikiller“ ist ein Buch, das dafür plädiert, andere Wege zu gehen, gegen den Strom zu schwimmen und einfach auszusteigen, egal welche Konsequenzen es nach sich ziehen würde. Doch man kann sich auch des Eindrucks eines gewissen jugendlichen Überdrusses nicht erwehren- leben doch alle weitestgehend sorgenfrei und in sehr guten Verhältnissen.
Legitim und richtig ist immer die Suche nach sich selbst, nach der eigenen Identität, sowie die tiefe Sehnsucht danach, ein eigenes, ganz anderes Leben zu führen als das der Eltern. Auch das Gefühl, dass das, was die Altersgenossen so umtreibt, nicht genügt, ist ein Zeichen von einem wachen Verstand und eines gesunden Selbstbewusstseins. Dem Gefühl, dass da mehr sein muss, ist ein gesunder Impuls zum Aufbruch in ein neues „Ich“.
Ein schöner Angang für einen Coming-of-Age Roman, doch im Verlauf der Geschichte wird es immer verkopfter und die Leichtigkeit, die sich durch die außergewöhnlichen Freundschaften und Entdeckungen ergeben hat, ist schnell dahin. Waren sie zu Beginn ein unschlagbares Team - ein alter Mann, zwei Teenager und ein kleiner dicker Junge, der Blumen liebt und ihren Schutz verdient hat – löst der komplette Realitätsverlust von Alex eine schreckliche Kettenreaktion aus.
Nanette macht es sich und anderen sehr schwer. Das wirkt passagenweise sehr anstrengend und unlogisch, geradezu fast selbstverliebt, wie sie so in ihrer tragischen Geschichte - von allen anderen entrückt - davonschwebt. Es hat etwas Destruktives, das ich unnötig finde.
Ein Buch in drei Teilen
Matthew Quick, Autor von Silver Linings, dessen Verfilmung mit dem Oscar nominiert wurde, bringt seine Leser nicht mehr zurück in die unbeschwerten Anfänge. Er lässt uns mit Nanette ganz den Prozess der Desillusion miterleben. Dadurch ist das letzte Drittel des Jugendromans ein ganz anderer Lesestoff, als der Mittelteil, bei dem sich eine gewisse Magie aufbaut.
Sprachlich ist der Roman von Matthew Quick durchgehend auf einem hohen Niveau; seine Gleichnisse, seine treffende Wortwahl und auch die Poesie - in den Gedichten von Alex - lesen sich leicht, sind aber dennoch intensiv. Sie verleihen der Story eine spezielle Atmosphäre; nicht zuletzt Nanettes pointierter Galgenhumor trägt dazu bei. Diese sprachliche Leichtigkeit nimmt jedoch ebenso rapide ab, wie Nanettes Leben ganz unvermittelt in eine tiefe Krise gerät. Dadurch entstand bei mir der Moment, da ich mit dem Buch ein zweites Mal fremdelte, denn auch der Einstieg ist nicht ganz so leichtfüßig und charmant, wie der Mittelteil.
Die Auslöschung des eigenen „Ichs“, der Versuch und das Scheitern, wieder in das normale Leben zurück zu kehren, ist am Ende doch ein schweres Gepäck für den Roman - und somit auch sprachlich nicht mehr so lebendig und erfrischend anders. Dies ist natürlich der Situation geschuldet; dennoch frage ich mich, ob Matthew Quick nicht ab einem bestimmten Punkt noch das erzählerische Ruder hätte herumreißen können, um auf ein ermutigenderes Ende zuzusteuern.
Fazit:
Nach einem etwas zähen Auftakt hat mich das Buch durch seine originelle Idee um einen Club der Freidenker, der Unangepassten und Außenseiter, die unterschiedlicher nicht sein könnten, für sich eingenommen. Sprachlich sehr gut umgesetzt, war es ein Vergnügen den Entwicklungen zu folgen. Doch im weiteren Verlauf ging diese Leichtigkeit gänzlich verloren, wie auch die Glaubwürdigkeit durch die Engstirnigkeit der Protagonisten. So bleibt es für mich ein zwiespältiges Lesevergnügen, zwiespältig wie auch der fiktive Roman, der „Schildkrötenwege“ zugrunde liegt.
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