Dry

aus dem Englischen von Kristian Lutze und Pauline Kurbasik; Broschur, 448 Seiten

ISBN: 9783737356381

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Sabine Bongenberg
9101

Jugendbuch-Couch Rezension vonJun 2019

Verbeugung vor den Meistern

Tatsächlich habe ich lange überlegt, dieses Buch mit zehn Punkten zu bewerten. Ich habe zum Schluss „nur“ eine Neun vergeben, da es meiner Meinung nach kaum möglich ist, einen Roman zu verfassen, der perfekt ist, an dem alles stimmt und kein noch so kleiner Makel zu finden ist. Dennoch erinnert das Szenario, das Vater und Sohn Shusterman hier entwickeln an einen der besseren Stephen-King-Romane – allerdings ohne die übernatürlichen Einflüsse, die Mr. King gerne in seinen Romanen bemüht.

Die Autoren beginnen ihren Roman mit einem zunächst nicht besonders dramatisch anmutenden Einschnitt: Es gibt kein Wasser. Eine zunächst nur lästige kleine Randerscheinung. Man kann sich nicht wie gewohnt duschen, es kommt nichts aus dem Hahn, das Leben wird ein wenig verkompliziert. Dennoch macht sich schnell der Verdacht breit, dass das keine kurzfristige Einschränkung sein könnte und noch schneller bahnen sich die ersten gesellschaftlichen Umstürze an. Wer jetzt schnell und rücksichtslos ist, der kann sich im Supermarkt die plötzlich kostbaren Wasservorräte sichern. Erste Auflösungserscheinungen treten zu Tage: Kinder und alte Menschen werden nicht mehr rücksichtsvoll behandelt, wenn es plötzlich um das eigene Weiterkommen geht, werden bisherige Freunde zu Konkurrenten. Das Gefühl des herannahenden Unheils vermittelt bereits jetzt eine ungemütliche Spannung, die an den Nerven zerrt.

Dennoch ist dies nur der Beginn der Katastrophe, die sich mit jedem weiteren Tag, in die die Kapitel gegliedert sind, und mit zunehmenden Horrorszenarien ihren Weg bahnt. Der Mensch kann grundsätzlich drei Tage ohne Wasser überleben. Welche Quälereien und vor allem welche Kämpfe diese möglichen drei Tage aber beinhalten, darüber macht sich niemand Gedanken. Natürlich ist es menschlich, dass sich Überlebensstrategien herauskristallisieren – die aber im Großen und Ganzen ungeeignet sind, um das Überleben der Gemeinschaft zu sichern.

Eine neue, feindliche Welt

Alyssas Familie wird von den Entwicklungen regelrecht überrollt. Wie der Großteil der Bevölkerung trifft sie das „Tapout“ – wie das komplette Abstellen des Wassers alsbald genannt wird – vollkommen unvorbereitet. Es gibt keine Vorräte, auf die sie zurückgreifen können, und da die Familie erst spät den Ernst der Lage erkennt, wird auch nichts unternommen, um den mühsam eroberten, kläglichen Wasservorrat zu bewahren. Das rächt sich. Alyssa und ihr kleiner Bruder Garret werden unversehens in eine feindliche Welt katapultiert und müssen schnell lernen, für sich selbst zu kämpfen. Diese neue Rolle fällt insbesondere der verantwortungsbewussten Alyssa sehr schwer, versucht sie doch immer wieder, das Richtige zu tun. Durch ihre gut gemeinten, aber häufig auch unbedachten Handlungen gelingt es ihr immer wieder, sich in bedrohliche Situationen zu bringen, aus denen sie dann von ihren Freunden gerettet werden muss. Alyssa meint es immer gut, sie will helfen und doch sorgt sie dafür, dass das Chaos noch größer und Spaltungen zwischen bisherigen Freunden und Nachbarn noch vergrößert werden.

Ganz anders die Familie ihres Klassenkameraden Kelton, die als so genannte „Prepper“ schon lange mit einer Katastrophe rechnete und sich gründlich darauf vorbereite. Unglücklicherweise ist es die eine Sache, sich auf eine Verknappung von wichtigen Ressourcen einzustellen – aber eine ganz andere, damit umgehen zu müssen. Wie macht man das also, wenn man plötzlich zu den einzigen Glücklichen gehört, die über Wasser verfügen, wenn der Rest der Nachbarschaft Durst leidet, oder man noch elektrischen Strom hat, wenn alle anderen schon im Dunkeln sitzen? Keltons Familie muss dazu auch noch mit der ungewohnten Rolle umgehen, gestern von allen als „Spinner“ verspottet und dagegen heute schon als „Genies“ hofiert zu werden. Dennoch konnten sie sich trotz aller Kurse nicht darauf vorbereiten, was es heißt, wenn plötzlich jeder das will, was sie noch haben und bereit ist, sich diese begehrten Waren mit Gewalt zu nehmen. 

Erschreckend realistisch

Andere Überlebensstrategien werden mit der teilweise nur kapitelhaften Darstellung weiterer Personen beschrieben. Einige, die teilweise rein zufällig über einen neuen Reichtum durch ihre Wasservorräte verfügen, bereichern sich schamlos an der neuen Situation. Die Sippe der „Kriegsgewinnler“ macht sich auch hier breit, andere werden in die Prostitution getrieben, um das nackte Überleben zu sichern. Hier sei aber auch kritisch angemerkt, dass ich mich manchmal gefragt habe, ob die vorgegebene Altersangabe mit 14 Jahren nicht besser auf 16 erhöht worden wäre. Viele Ereignisse werden sicherlich nur angedeutet oder die Handlung blendet frühzeitig aus, dennoch empfand ich einige Szenarien als sehr belastend, so zum Beispiel die Szene, wo nur die Vielzahl der verlorenen und zurückgelassenen und immer weiter läutenden Handys von einem schrecklichen Überlebenskampf auf einem Strandabschnitt berichtetet.

Dry ist ein erschreckend realistisches Lehrstück darüber, wie schnell das Deckmäntelchen der Humanität und des sozialen Denkens weggerissen wird, sollte das bisher niemals in Frage gestellte bequeme Überleben plötzlich gefährdet werden. Dennoch zeigt das Buch auch, dass es gelingen kann, innerhalb schwierigster Umstände als Gruppe zu überleben. Nur wer lernt, sich schnell und flexibel auf das neue Leben einzustellen, wer bereit ist, die Umstürzung der Strukturen von „Unten“ nach „Oben“ zu akzeptieren und kreativ neue Ideen entwickeln kann, der hat möglicherweise eine Chance. Der berühmte Spruch „Wenn der Wind der Veränderung weht, dann bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen“ beweist sich hier wieder als sehr war. Natürlich bleiben wie bei jedem düsteren Zukunftsszenario Fragezeichen: Würde eine Staatengemeinschaft tatsächlich so hilflos agieren, wenn ein plötzlich hoch technisiertes Land vor dem Untergang steht? Würde sich die Weltbevölkerung tatsächlich so achselzuckend abwenden? Das Gute an dieser Frage bleibt aber letztendlich das, dass sich diese Frage – derzeit – einfach nicht stellt.

Fazit:

Wer Dry gelesen hat, der geht mit dem Wasser, das einfach so billig und sauber aus dem Hahn sprudelt, zumindest für einige Zeit anders um. Wasser ist etwas Kostbares – vielleicht sollten wir einmal anfangen, es auch tatsächlich so zu behandeln.

Dry

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