Die Einsame im Meer
Arme Seele in Not
Es war einmal ein junges Mädchen, das wurde an die Küste gespült und wuchs im Städtchen Ipswich auf. Doch zog es sie immer wieder zurück ans Meer. Eines Tages wurde der Ruf der See so stark, dass sie sich in die Fluten stürzte. Dies aber brachte nach und nach ihre wahre Gestalt zum Vorschein. In Wirklichkeit nämlich war sie eine Meeresgöttin. Doch mit ihren Tentakeln war sie unter den Menschen nicht länger willkommen. Ihr Ziehvater gab sein Leben, um sie vor einem wildgewordenen Mob zu schützen. Ihr selbst gelang in letzter Sekunde die Flucht. Verbittert verschwand sie zwischen den schäumenden Wogen und sann auf Rache…
Im Königreich Morningstar herrscht Aufruhr: Nachdem Prinzessin Tulip von dem Biest-Prinzen zutiefst verletzt wurde, wollte sie ins Wasser gehen. Die berüchtigte Seehexe Ursula jedoch schlägt ihr stattdessen einen Handel vor, und nimmt ihr die Schönheit, sodass sie sich nie mehr um die ungewollte Aufmerksamkeit von Männern scheren müsste. Nun jedoch hat sie ihr Aussehen zurückerlangt und kann sich vor Verehrern wieder nicht retten.
Gleichzeitig befinden sich die verdrehten Schwestern auf der Suche nach der verschollenen Circe und nehmen dafür ebenfalls Ursulas Hilfe in Anspruch. Diese wiederum verfolgt jedoch ganz eigene Pläne. Da ihr Bruder Triton, Herrscher über die Weltmeere, ihr ihren rechtmäßigen Platz an seiner Seite versagt und sie seit jeher als Scheusal verschrien hat, schmiedet sie finstere Ränke, in deren Zentrum Tritons Tochter steht: ihre Nichte Arielle…
„Ursula war die Königin des Handels“
Im 3. Band ihrer aus der Sicht berühmter Disney-Bösewichte verfassten Reihe nimmt sich Serena Valentino einer der wohl unterhaltsamsten Schurkinnen an: Ursula, die böse Meerhexe aus Disneys „rielle. Dies zumindest dem Titel nach – denn was in Band 1 mit Schneewittchens Stiefmutter noch gut gelang, entgleitet Valentino leider ein wenig, da sie zu sehr damit beschäftigt ist, ihren eigenen Plot zu spinnen, der die einzelnen Bände miteinander verbindet.
Dass die Originalfilme zum Teil in unterschiedlichsten Epochen und Settings angesiedelt sind und somit eine Rahmenhandlung nicht ganz glaubwürdig ist, lässt sich in einem märchenhaften Sujet ganz gut verschmerzen. Aber leider sind die Handlungsstränge um die verdrehten Schwestern sowie Prinzessin Tulip etwas überfrachtet und lenken vor allem von der Person ab, die Mittelpunkt des Buches sein sollte: Ursula. Zwar hat sie auch mit den anderen Figuren zu schaffen, und die Geschichte von Arielle wird mit den für sie ausschlaggebenden Szenen nacherzählt, aber für einen Charakter, der Hauptperson sein sollte, gerät sie doch immer wieder stark in den Hintergrund – dabei ist das, was über ihre Vergangenheit ans Licht kommt, größtenteils spannender als das, was Valentino über Tulip und die Schwestern offenbart. Gegen Ende kommt dann doch noch die ein oder andere interessante Wendung – das Ganze wirkt aber eher wie ein Cliffhanger, der Lust auf die Fortsetzung machen soll, als wie ein eigenständiger, durchdachter Roman.
So ist auch in diesem Band die Verbindung von Neuerzählung und Original durchwachsen. Wo Band 1 noch ein psychologisch überraschend vielschichtiges Porträt der „bösen Königin“ zeichnen konnte, fällt dieses Buch – wie schon Band 2 – dahinter ab. Gerade Ursula (deren Design von einer berühmten Drag-Queen inspiriert wurde) ist im Original ein schillernder Charakter mit ganz eigenem Humor und – auf ihre Art und Weise – Charme. Dies kann Valentino leider nur in Lippenbekenntnissen beibehalten. Am ehesten kommt Ursulas Wesen in den Szenen rüber, die direkt dem Originalfilm entlehnt sind. Und ist ihr Song auch ein Ohrwurm, einfach den Text davon wiederzugeben (vor allem noch den der etwas überflüssigen Neusynchronisation), sodass Ursula plötzlich über mehrere Absätze zu reimen beginnt und genauso unvermittelt wieder damit aufhört, ist ohne die Hintergrundmusik nicht besonders sinnvoll.
„Ich bin die See“
Positiv sind einige kleine Anspielungen aufs Original. Auch ist es sehr löblich, dass Valentino die Tatsache eingebaut hat, dass Ursula Tritons Schwester – also Arielles Tante – ist und von diesem verbannt wurde. Diese Hintergrundgeschichte wurde zwar aus dem Originalfilm herausgeschnitten, gilt aber als offiziell. Einige der düsteren Sequenzen gelingen Valentino auch überraschend gut: z.B. erhebt sich Ursula in der Eröffnungsszene mit einem Gefolge aus Seelenlosen (in Anlehnung an ihren kleinen „Garten“ aus dem Film) als Rachegöttin aus der See und zerstört das Ipswich (so benannt möglicherweise als Hommage an H.P. Lovecraft, der das Städtchen in seinen Werken auftauchen ließ, die ja für gigantische, gottgleiche Tentakelwesen, die unter dem Meeresspiegel hausen, bekannt sind; zwar ist Ipswich in den USA angesiedelt und somit ganz schön weit entfernt von Dänemark, wo Arielle spielen sollte, aber das lässt sich bei einer derart cleveren Anspielung verzeihen). Diese Szene wird unheimlich und mit der nötigen Wucht geschildert. Es gibt nur nicht genug davon.
Fazit
Leider kann Valentino auch mit diesem Band nicht ganz an den ersten anknüpfen, der eine sehr runde Sache war. Noch ist kein Plan für die verschiedenen Plotlines zu erkennen, die offensichtlich alle Schurken miteinander verbinden sollen (z.B. wird die Dunkle Fee Maleficent erwähnt), und die zentrale Figur bleibt ein wenig auf der Strecke. Aber Ursula ist nach wie vor eine der besten Disney-Schurkinnen, die wenigstens in einigen Sequenzen des Buches brillieren kann. Und sind ihre Hintergründe auch nicht so schön beleuchtet, wie sie hätten sein können, so bietet dieser Roman dennoch kurzweilige Fantasyunterhaltung über die Einsame im Meer.
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