Die Geschichte der geraubten Kinder
Alodia ist erst fünf Jahre alt, als ihr Vater hingerichtet und ihre Mutter ins KZ gebracht wird. Zusammen mit ihren vier Geschwistern kommt sie zunächst bei Verwandten unter. Doch sicher ist Alodia deshalb noch lange nicht, denn die Deutschen durchforsten das besetzte Polen nach „rassentauglichen“ Kindern: blond und blauäugig; Merkmale, die auf Alodia und ihre kleine Schwester zutreffen. Die beiden werden ihrer Familie entrissen, kommen in ein Kinder- und Jugend-KZ und anschließend in ein Heim. Dort wird die angebliche Waise Alodia an eine deutsche Familie vermittelt. Während das Mädchen sich in Deutschland einlebt und immer mehr ihre polnische Familie und ihre Wurzeln vergisst, hält Alodias Mutter einzig der Gedanke an ihre Kinder aufrecht. Nach dem Krieg macht sie sich auf die Suche nach ihren Töchtern und holt Alodia und deren Schwester zurück nach Polen. Doch für die Mädchen ist ihre Mutter eine Fremde geworden.
Schwer zugänglich mit wenig Tiefe
Obwohl Reiner Engelmann für die Recherche zu diesem Buch mit der Zeitzeugin Alodia Witaszek gesprochen hat, bleibt ihre Geschichte sehr unpersönlich. Tatsächlich ist nur schwer auszumachen, welche Informationen von der Zeitzeugin stammen und welche aus anderen Quellen. Konkrete Erfahrungen oder Gedanken zu den Vorgängen sind kaum vorhanden, alles wird nüchtern und distanziert runtererzählt. Viele Darstellungen bleiben allgemein, konkrete Szenen oder Erlebnisse werden so gut wie gar nicht dargestellt. Dies ist vermutlich auch dem Umstand geschuldet, dass Alodia zu dieser Zeit noch sehr klein war; doch gerade deshalb wäre es interessant gewesen, zu wissen, welche Informationen von der Zeitzeugin kommen und welche rekonstruiert wurden. Zur eigentlichen Befragung der Zeugin, Recherche oder Quellenarbeit erfährt man leider gar nichts.
Dagegen wirken die Schilderungen über die Erlebnisse der Mutter Alodias schon ausgereifter. Über ihre Zeit im KZ Auschwitz erfährt man recht viel, hier finden sich auch einige Details zu ihrem Alltag. Trotzdem bleibt offen, ob Alodia diese Informationen direkt von ihrer Mutter erfahren hat, oder hier andere Quellen herangezogen wurden in Form von Briefen, Tagebucheinträgen oder Ähnlichem. Die Zeiten im KZ, sowohl von Alodias Mutter als auch von Alodia selbst, nehmen über die Hälfte des gesamten Buches ein. Zwischendurch wird kurz die Suche nach Alodia durch ihre Verwandten thematisiert, doch auch dies kommt recht kurz. Das Thema der Zwangsadoption tritt somit in den Hintergrund – erst am Schluss werden die Folgen dieses Verbrechens behandelt, und das auch wieder für ein solch persönliches Thema ungewöhnlich emotionslos und oberflächlich. So bleiben die Identitätskrise Alodias und die traumatischen Folgen ihrer Erlebnisse kaum spürbar. Hinzu kommt, dass der Text sprachlich oft unbeholfen daherkommt und das ganze Ausmaß dieses geschichtlichen Ereignisses gar nicht richtig fassen kann, nicht zuletzt aufgrund der hektischen Erzählweise.
Fazit
Obwohl das Buch eine persönliche Geschichte behandelt, ist davon im Text nur wenig zu spüren. Dass es sich um den Bericht einer Zeitzeugin handelt, merkt man kaum. Dieses Buch gibt trotzdem einen informativen Einblick in ein trauriges Kapitel deutscher Geschichte, dennoch wären an einigen Stellen mehr Tiefgang und Einblicke in die Quellenarbeit wünschenswert gewesen.
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