Herzzerreißend – das Schicksal einer jüdischen Familie aus Norwegen
Das erste, was ich bei Betrachtung dieses Buches dachte, war, dass ich schon lange nicht mehr so ein schönes Buch – mit Textilfassung und goldenem Blättern auf dem Einband – in der Hand hatte. Der Inhalt dagegen ist ein schrecklicher. Marianne Kaurin beschreibt das Schicksal der jüdischen Familie Stern aus Norwegen, die hier während des Zweiten Weltkrieges erfasst, verhaftet und deportiert wurde und zuletzt ein furchtbares Ende erlitt.
Ein Blick auf das Schicksal einer Jüdin
Marianne Kaurin führt den Leser über das misslungene erste Rendezvous der Heldin Ilse Stern in die Geschichte ein. Ilse ist ein Teenager, ein wenig widerborstig, ein wenig eitel, und was sie von ihren heutigen Altersgenossinnen unterscheidet, ist zunächst nur der für die heutige Zeit ungewöhnliche Vorname – aber auch der in der damaligen Zeit schwer wiegende Umstand, dass sie zur Glaubensgemeinschaft der Juden gehört. In einem von den Deutschen besetzten Land kommt das einem Todesurteil gleich, und so geraten auch Ilse und ihre Familie in die schreckliche Todesmaschinerie, die Menschen aus ihrem Haus, aus ihrem gewohnten Umfeld und aus ihrem Leben herausreißt und in die Vernichtung führt.
Auf der Flucht vor den Nationalsozialisten
Die Autorin zeigt fein und unsentimental, dass die Familienmitglieder ganz normale Träume hatten: Eine Tochter erlebt die ersten Gefühle für einen jungen Mann und verbringt die Tage in banger Ungewissheit, ob er diese erwidert; die andere beschäftigt sich dagegen mit ihrer beruflichen Zukunft und setzt alles daran, ein eigenes, selbstbestimmtes Leben aufzubauen. Die Eltern versuchen die Normalität aufrecht zu erhalten, sehen möglicherweise die Katastrophe herannahen, zögern aber zu lange, um die Familie zu retten.
Dieses Zögern, das bei verschiedenen Figuren in diesem Roman zu finden ist, stellt einen der wenigen Punkte dar, der die Handlung ein wenig in Frage stellt. Wer – wie eine der Hauptpersonen – offensichtlich im Widerstand gegen die Nazis involviert ist und so weitsichtig ist, sich und seinen Mitkämpfern ein kreatives Alibi aufzubauen, warum sollte der schweigen, wenn es darum geht, eine Familie vor einem schrecklichen Schicksal zu warnen? Somit ist es hier nur dem Zufall geschuldet, dass eines der Mitglieder der Familie Stern dem Zugriff der Nazis entging und versuchen konnte, sich in das sichere – da seinerzeit neutrale – Schweden abzusetzen.
Wenn das Grauen wieder lebendig wird
Marianne Kaurin beschreibt mit knappen, sachlichen Worten schreckliche Szenen, die sich bei der Deportation der Juden aus Norwegen abspielten. Durch diese kurze Darstellung wird die Brutalität dennoch besonders deutlich und greifbar, wie bei dem alten Herrn, der nur noch mit Hilfe eines Stocks gehen kann, der aber verprügelt wird und dem der Stock entrissen und zerbrochen wird.
Die Leser erleben mit den gedemütigten Opfern den Zerfall der bisher schwierigen, aber immer noch vertrauten Welt und den Übergang in die Bestialität. Besonders hart trifft es dabei die, die ohnehin beeinträchtigt sind, die Medikamente brauchen, um zu überleben, oder die nach schrecklichen Erfahrungen dabei sind, ihre geistige Gesundheit zu verlieren. Kaurin erzählt von diesen Personen teils nur am Rande des eigentlichen Geschehens, erschafft damit aber eine Erweiterung und Fortsetzung des bereits entstandenen Grauens.
Die Flucht eines Familienmitglieds stellt immerhin einen Hoffnungsschimmer dar und gibt denen, die sich bisher als Mittäter schuldig gemacht haben, die Möglichkeit, sich aus dieser Rolle zu lösen und zu versuchen, vergangenes Unrecht wieder gut zu machen. Obwohl sich dieses Unrecht nicht wiedergutmachen lässt – was auch eine Lehre dieses Buches ist. Nicht wieder gutmachen lassen sich verlorene Jahre, verlorene Liebe, verlorenes Leben – auch wenn sich zum Schluss der Kreis schließt und das Leben dann doch weiter geht.
Fazit
Ein lesenswertes Buch über eines der schwärzesten Kapitel der Neuzeit. Geschichte wird hier zum berührenden Thema – eindringlich und sehr intensiv erzählt.
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