Die Schweigemauer muss durchbrochen werden
Leighton Barnes gilt in ihrer Klasse als die „Eiskönigin“. Wer mit ihr ausgehen möchte, der beißt sich an ihrer Abwehrhaltung die Zähne aus. Tatsächlich steckt dahinter ein einfacher Grund: Leighton muss sich um ihre beiden jüngeren Schwestern kümmern und um ihre Mutter, die jederzeit Gefahr laufen, Angriffsziel ihres Vaters zu werden – aus Frust über seine verbaute Zukunft und das fehlende Geld. Selbst Kleinigkeiten, wie der morgendliche Kaffee, der sich über sein Hemd ergießt, lassen ihn toben. Obwohl dies viele wissen, sehen sie alle geflissentlich weg. Ihre Mutter dagegen klammert sich an die irrationale Hoffnung, dass es schon irgendwann besser werden wird
So spannend wie erschreckend
Es ist mir immer wieder unangenehm, einen Roman über ein solch schreckliches Thema des täglichen Terrors einer Familie als „spannend“ zu bezeichnen. Aber hier geht es nicht anders. Kyrie McCauley schreibt mit viel Feingefühl und sensibler Feder, dass der Schrecken der häuslichen Gewalt fassbar gemacht wird. Ihr Roman ist gleichzeitig so fesselnd und spannend geschrieben, dass ich keinem empfehlen kann, die Lektüre irgendwo zwischen Tür und Angel anzufangen – es sei denn der Leser ist daran interessiert, in den nächsten Tagen mit einer Fülle von Verspätungen zu glänzen.
Die subtile Beschreibung des Horrors
Kyrie McCauley beschreibt mit der Geschichte der 16jährigen Leighton nicht nur die Geschichte einer angestrebten Befreiung, sondern die Struktur einer Familie mit einer Umkehr der Rollenverteilung: Der Vater, der alle sichern und versorgen sollte, wird zum größten Problem, gar zu einer akuten Bedrohung. Diese ständige Gefahr äußert sich nicht in körperlichen Attacken. Es bleibt bei subtilen Beschreibungen von nächtlichen Störungen oder dröhnender Musik, die aber letztendlich so schlimm wie eine detaillierte Schilderung sind, bleibt es doch der Fantasie des Lesers überlassen, sich zu fragen, was dieser Lärm wohl verbergen soll.
Dennoch zeigt auch die Autorin die deutliche Brutalität des Vaters auf, als dieser die Tochter erstmalig mit einem Ausdruck belegt, den sicherlich kein Vater zu seiner Tochter sagen sollte – und generell auch kein Mann zu einer Frau.
Unklar bleibt die Rolle der Mutter Erin. Sie ist dermaßen in ihre Co-Abhängigkeit verstrickt, dass sie nicht sehen kann – oder will – was zwangsläufig eintreten wird, wenn sie sich nicht aus ihrer wahnhaften Liebe löst. Ihr ständiges und permanentes Betonen, dass der Vater „ja nicht so sei“ und dass er sich „eben in einer schwierigen Phase befindet“, erscheint gelegentlich aufgesetzt und zugunsten der Handlung zurechtgebogen. Dennoch erscheint ihr Verhalten – leider – nicht vollkommen lebensfremd.
Leighton übernimmt die Rolle der Mutter
Schlussendlich ist es Leighton, bei der alle Fäden zusammenlaufen. Sie entspricht der Mutterrolle in dieser kranken Familie. Möglicherweise würde diese bizarre und widersinnige Rollenverteilung so weiter laufen, würde Leighton nicht beginnen, gegen ihre Rolle aufzubegehren. Das passiert, als sie sich in den gleichaltrigen Mitschüler Liam zu verlieben beginnt und nicht zuletzt in dessen Haus erfährt, dass Beziehungen nicht einem gewalttätigen Muster unterliegen müssen. Hier kommt dann eine weiterer Handlungsstrang zum Tragen, nämlich dem der ersten Liebe – auch dieser wird schön und einfühlsam erzählt, wenn auch oft von den Ereignissen im Hause Barnes überschattet.
Ein fast perfektes Buch
Kyrie McCauleys Buch fesselte mich dermaßen, dass ich lange überlegt habe, ob es nicht doch einmal an der Zeit sei, eine „Zehn“ als Bewertung zu vergeben. Letztendlich konnte ich diese Idee dann doch guten Gewissens verwerfen, denn auch bei diesem Werk gibt es Elemente, die mir nicht gefallen. So verstehe ich nicht, aus welchem Grund die Autorin in die realistische und damit besonders bedrohliche Handlung magische Momente eingebaut hat. So vermag sich das Haus der Familie Leighton offensichtlich wieder selbst von den Schäden zu heilen, die der rasende Vater ihm beibrachte. Auch wenn das als Sinnbild einer langen Reihe von Gewalttätigkeiten, die sich durch die ganze Familie ziehen und als weiteres Bild der schweigenden Umwelt gedeutet werden kann, irritiert diese Konstruktion immer wieder.
Für übertrieben halte ich auch das fast schon märchenhafte Auftreten eines Krähenschwarms, der die Stadt belagert – wenngleich sie einen besonderen kleinen Helden hervorbringt, der immerhin ein wenig Leichtigkeit in das bedrohliche Szenario zaubert.
Fazit
Kyrie McCauley debütiert mit einem schrecklichen, aber faszinierenden und fesselnden Werk. Es regt zum Nachdenken an und sensibilisiert für ein äußerst bedrückendes Thema. Häusliche Gewalt geht jeden etwas an und macht klar: In solchen Fällen ist es nicht besser zu schweigen.
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