Man glaubt es nicht so ganz…
Lincoln Selkirk hasst seine Schule und seine Mitschüler. Er ist der unsportliche, eigenartige, klugscheißende Nerd und damit ein ideales Opfer. Aber er hat es fast geschafft: Nur noch dieses eine Sommercamp mit einigen Leuten aus seiner Klasse und dann kann er die Schule endlich verlassen. Aber da passiert das Unfassbare: Die Maschine, mit der sie unterwegs sind, stürzt mitten im Meer ab. Alle können sich auf eine kleine Insel retten. Es gibt keine Erwachsenen, keine Regeln und jetzt werden die Machtpositionen neu besetzt: Denn Lincoln hat sehr viel über das Überleben auf einsamen Inseln und über Machtgefüge gelesen und dazu ist er noch sehr, sehr clever.
Probleme mit der Glaubwürdigkeit
Lincoln Selkirk – benannt nach dem wohl berühmtesten amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln – berichtet hier als Ich-Erzähler von zwei harten Schlägen in seinem jungen Leben. Den ersten erlebt er in Osney, seiner neuen Schule. Bisher wurde er behütet zuhause von seinen Eltern erzogen und erhielt dort seine – sicherlich manchmal eigenwillige – Schulbildung, die sich allein nach dem Geschmack seiner Eltern und nach seinen Neigungen richtete. In Osney ist alles anders: Es wird großen Wert auf eine sportliche Ausbildung gelegt und nach diesem Maßstab richtet sich der soziale Rang der Schüler. Aber Link ist kein Sportler, seine Kleidung entspricht keiner Mode und sogar seine Haare schneidet er sich selbst. Es muss also nicht überraschen, dass er das Lieblings-Mobbing-Opfer seiner Klassenkameraden wird – mit Beschimpfungen in den „sozialen“ Medien, mit sehr groben Scherzen und mit Aufgaben, die schon fast einer Versklavung ähneln.
Hier kam auch der Punkt, wo ich langsam die ersten Schwierigkeiten mit der Glaubwürdigkeit hatte. Sicherlich haben englische Privatschulen in der Vergangenheit einige eigenartige Blüten hervorgebracht. Es fällt mir aber schwer zu glauben, dass noch in heutiger Zeit tonangebende „Leader of the Pack“ ihre Mitschüler dazu zwingen können, ihnen zu jeder Tages- und Nachtzeit die Sporttasche hinterherzutragen, Besorgungen im Nachbarort zu erledigen oder für sie und ihre besten Kumpels die Hausaufgaben oder Seminararbeiten zu schreiben.
Immerhin, für Link kommt der Tag, an dem sich alles ändert und das ist der Tag, an dem er seinen zweiten harten Schlag erlebt. Das Flugzeug, in dem er und ein großer Teil seiner Klassenkameraden reisen, stürzt ins Meer und nur die Jugendlichen können sich auf eine einsame Insel retten. Hier ändern sich nun die Machtverhältnisse, denn das was vorher wichtig und angesagt war, ist hier vollkommen nutzlos. Link ist zudem derjenige, der neben Büchern über das Überleben nach dem Schiffbruch auch Werke über moderne Herrscher und Diktatoren gelesen hat und somit über Grundkenntnisse des Machtgebrauchs und -missbrauchs verfügt. Der Leser erlebt somit eine zügige Wandlung vom Underdog zum Retter oder Survival-Genie und den ebenso steilen Absturz zum Despoten.
Dieser Weg überraschte mich schon ein bisschen, hatte ich doch erwartet, dass der Ich-Erzähler nach den erlittenen Schmähungen weiß, wie es sich anfühlt, am Anfang der Nahrungskette zu stehen. Noch viel mehr überraschte mich aber, dass die Autorin neben dem gut gemachten Insel-Abenteuer noch einen weiteren Handlungsstrang einbaute, der die Geschichte wieder auf ein neues Gleis stellt. Möglicherweise wollte sich die Autorin mehr von William Goldings Herr der Fliegen, der über ein weltberühmtes schreckliches Inselabenteuer berichtet, abheben, vielleicht wollte sie auch den Spannungsbogen noch einmal weiter anheben. Leider aber brachte diese erneute Wendung einige Schrammen in die bisher logisch und glaubhaft aufgebaute Geschichte, nahm der Held, der bisher doch alles hinterfragte und erforschte, plötzlich einiges einfach als gegeben hin.
Fazit
M. A. Bennett hat eine gut erzählte, spannende Geschichte über den plötzlichen Umsturz eines Machtgefügtes geschrieben. Der Versuch sich von anderen Robinsonaden abzuheben und der Einbau einer zusätzlichen Ebene brachte aber die gut laufende Geschichte ein wenig aus dem Schritt. Mir gefiel auch, dass sie nicht mit dem Höhepunkt oder der Aufklärung der Geheimnisse endete, sondern noch ein wenig weiter lief. Damit konnte sie dann auch noch zeigen, wie insbesondere einer der Insel-Akteure seine Erfahrungen in einem speziellen Beruf besonders nutzen konnte. Sicher war das auch ein wenig märchenhaft – aber auch schön und Mut machend.
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