Ein wichtiges Thema, aber sperrig zu lesen
Es sind zunächst nur kleine Alarmsignale: Der 15jährige Caden wendet sich an seinen Vater, weil er glaubt, ein Mitschüler wolle ihn ermorden. Dabei kennt der Junge diesen mysteriösen Mitschüler nicht einmal – er weiß nicht, wie er heißt, welche Kurse er besucht und aus welchem Grund er denn Mordabsichten hegen könnte. Dieses Mal können die Ängste in einem kurzen Gespräch zerstreut werden. Aber die Vorkommnisse häufen sich: Caden fühlt sich von Wildfremden bedroht oder ist sicher, dass nur er alleine verhindern kann, dass seine Familie, seine Freunde oder seine Klassenkameraden bestialisch getötet werden. Dennoch ist er kein jugendlicher James Bond oder ein begnadeter Vampirjäger: Caden ist schizophren und mit dieser Erkrankung eine Gefahr für seine Umwelt und vor allem für sich selbst.
Die Krankheit im Kopf
Neal Shusterman, der seinen Lesern sonst aus verschiedenen düsteren Dystopien bekannt ist, wendet sich in diesem Buch einem Problem zu, mit dem er sich auch persönlich auseinandersetzen musste: Was tun, wenn ein Freund oder Familienmitglied an einer Geisteskrankheit leidet? Wie fühlt sich der Betroffene, wie kann Hilfestellung geleistet und das schreckliche Gefühl der Hilflosigkeit überwunden werden? Shusterman schildert das Hineingleiten in die geistige Erkrankung und das Ringen um die Rückkehr zur Realität am eigentlich ganz normalen, durchschnittlichen Teenagers Caden. Eben noch ein fröhlicher Sonnyboy, der mit allen gut auskommt, ein besonderes zeichnerisches Talent aufweist und in einem gut funktionierenden Freundeskreis integriert ist, irrt nun barfüßig und von Dämonen gejagt durch ein Einkaufszentrum. Der Freundeskreis glaubt, er nimmt Drogen und zieht sich daher zurück, Lehrer mutmaßen eine ähnliche Problematik, die Familie ist längst ratlos.
Vermeintliche Realitäten
Caden selbst erzählt seine Geschichte mittels einer wahnwitzigen Reise durch sein Bewusstsein und seine Empfindungen. Nicht nur, dass er sich als Passagier in einer kleinen Nussschale im Meer des Wahnsinns mit verrückten, eiskalten oder brutalen Protagonisten wiederfindet, es sind auch mehr als eigenartige Aufträge durchzuführen. So sind Monster des Meeres zu besiegen, irrwitzige Tauchgänge zu absolvieren und nebenher Galionsfiguren aus der Gefangenschaft zu befreien.
Vieles, was er in seiner ver-rückten (meint verschobenen) Fantasie erlebt, wirkt hier zu schrill, zu verwirrt, zu verschlüsselt. Es gelingt dem Leser kaum in diese bizarren Abschnitte einzusteigen. Unvermittelt wird er in diese Stränge geschubst, Erklärungen der Symbole oder Schlüssel zu den Bildern werden kaum angeboten und es bleibt ihm überlassen, wie weit er sich eine Brücke in Cadens Gedankenwelt bauen will.
Gut dargestellt sind dagegen die Szenen, die das „reale Leben“ des Jugendlichen beschreiben. Sie zeigen, wie der Junge schrittweise in den Wahnsinn abgleitet, aber wie lange es ihm gelingt, dies zu verbergen und eine Normalität vorzugaukeln, die für ihn schon lange nicht mehr existiert. Shusterman lässt seinen Helden mehr oder weniger allein um seine Gesundheit kämpfen; Ärzte, Familie und Freunde bilden bei diesem Kampf einen unterstützenden Rahmen, die wichtigste Arbeit aber leistet er selbst. Es ist daher auch nur konsequent – wenn auch sicher ein wenig desillusionierend – dass Caden keine neuen wichtigen Freundschaften aus diesem Kampf mitnimmt und sich auch keine zarte oder schöne Liebesbeziehung entwickelt.
Fazit
Shustermann hat mit Kompass ohne Norden ein wichtiges Buch über den Umgang mit einer geistigen Erkrankung geschaffen. Aber es ist vor allem auch ein sperriges Werk, das keine einfache Annäherung an dieses Thema bietet. Manchmal entstand der Eindruck, dass sich der Autor insbesondere an den Freundes- oder Familienkreis von Betroffenen richtete und damit an die, die trotz der schwierigen Lektüre am Ball bleiben, weil sie unbedingt eine Problemlösung suchen. Dennoch wird keine Lösung nach dem Muster „Drücke Knopf A und Reaktion B tritt ein“ geboten. Vielleicht erfahren viele aber eine Hilfe, dass ihnen recht deutlich gezeigt wird, dass sie mit ihrem Problem nicht allein sind und es sich sicherlich nicht Erkrankungen handelt, die totgeschwiegen werden müssen.
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