Wenn Fiktion und Realität aufeinander prallen…
Vermutlich ist das hier vorgestellte Buch für viele keine unbekannte Geschichte. Denn Der Junge im gestreiften Pyjama von John Boyne wurde nicht nur mehrfach ausgezeichnet und hielt sich monatelang auf den Bestsellerlisten, sondern ist darüber hinaus eine vielfach eingesetzte Schullektüre, die im Jahr 2008 zudem verfilmt wurde.
Erzählt wird aus der Sicht des neunjährigen Bruno zur Zeit des Dritten Reiches. Er lebt gemeinsam mit seinen Eltern und seiner Schwester Gretel in Berlin. Als sein Vater, ein SS-Offizier, als Lagerkommandant in Auschwitz eingesetzt wird, zieht die Familie dorthin um. Bruno selbst hat keine Ahnung davon, welche grausamen Verbrechen im Konzentrationslager begangen werden. Bei seinen spielerischen Erkundungstouren lernt er Schmuel kennen, einen jüdischen Jungen auf der anderen Seite des Zauns. Die beiden freunden sich an und fortan geht Bruno Schmuel regelmäßig besuchen. Als Schmuels Vater im Lager verschwindet, möchte Bruno diesem helfen und klettert unter dem Zaun hindurch…
Eine fast schon unerträgliche Naivität
Es gibt einen roten Faden, ein Motiv, das die gesamte Geschichte prägt, und das ist die Naivität Brunos. Die Augen dieses Kindes nehmen das Unbegreifliche, was in unmittelbarer Nähe seines Hauses passiert, nicht wahr. Und so ist von Anfang bis Ende die Rede von „Aus-Wisch“ oder dem Besuch des „Furors“. Gerade diese kindliche Naivität ist einer der vielen Kritikpunkte an dem Buch. Kann es tatsächlich sein, dass ein neunjähriger Junge wie Bruno, vom Zweiten Weltkrieg oder der antisemitischen Propaganda nichts mitbekommen hat?
John Boyne selbst weist in seinem Nachwort darauf hin, dass das schriftstellerische Vorhaben, eine Geschichte über den Holocaust zu schreiben, „eine umstrittene Angelegenheit“ ist. Sein Roman ist, wie auch schon der Untertitel aufzeigt, eine Fabel, die keine historisch korrekte Darstellung intendiert. Gerade diese Gegenüberstellung von Fiktion und Realität beschäftigte viele Rezensionen, sowohl in Bezug auf das Buch als auch den späteren Film.
Umstrittene Schullektüre
Problematisch ist in diesem Zusammenhang sicherlich die Tatsache, dass Jugendliche ohne viel Vorwissen über den Holocaust ein vollkommen falsches Bild von den Konzentrationslagern bekommen könnten. Einen neunjährigen Jungen wie Schmuel, der jeden Tag am Zaun sitzt und auf seinen Freund wartet, gab es sicherlich nicht. Auf Schülerinnen und Schüler könnte dies daher einen verharmlosenden Eindruck machen. Außerdem: Wird das Schicksal von Bruno und seiner Nazi-Familie in dieser Geschichte nicht dem aller anderen überstellt?
Abseits dieser viel diskutierten Punkte überzeugt John Boyne mit seiner eindringlichen Sprache und einer gewissen Distanz zum Erzählten, die immer wieder Raum zum Nachdenken bietet. Wie auch in seinen späteren Kinder- und Jugendbüchern versucht er, sich zeitgeschichtliche Themen aus der Sicht eines kindlichen Protagonisten zu nähern. Wie gut ihm das in diesem Fall gelingt, darüber sollte sich vielleicht jeder selbst eine Meinung bilden.
Fazit
Für die einen ein zentraler Jugendroman über den Holocaust, für die anderen eine problematische Schullektüre, die definitiv mehr Kontext benötigt.
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