Ein Roman aus einer anderen Zeit: Großes Drama und zu wenig Tanz
Es war ein wundervoller Tag für die 11jährige Delphine: Beim Vortanzen konnte sie ihren heimlichen Schwarm, den berühmten Tänzer Ivan Barloff, von sich überzeugen und hat die von allen begehrte Hauptrolle erhalten. Ihre Mutter freut sich, eine glänzende Zukunft steht ihr offen und jetzt kann sie sich noch schnell einen besonderen Wunsch erfüllen: Paris vom Dach der Oper aus bewundern. Jetzt ist das sicherlich nicht erlaubt, dass Kinder auf dem Dach der Oper herumstromern – aber was soll schon groß passieren? Unglücklicherweise passiert aber so einiges und schon rückt Delphines glänzende Zukunft möglicherweise in weite, weite Ferne…
In der Vergangenheit…
Eines sollte als wichtige Information um Delphines Abenteuer vorweg gestellt werden: Das französischsprachige Originalwerk wurde 1951 erstmals veröffentlicht und damit ist Delphine ein Kind ihrer Zeit: Es ist eine Zeit, in der noch geknickst wird, wo die kleinen Ballettschülerinnen der Oper in Paris von „Aufseherinnen“ beaufsichtigt werden und es einer alleinerziehenden Frau fast unmöglich ist, allein ihren Lebensunterhalt sicherzustellen.
Noch finsterer war es sogar um die Rechte der Kinder bestellt. Kindern wurde – so wie es irgendwie passte – die Möglichkeit zum Spielen oder zur Freizeitgestaltung eingeräumt und wenn es nicht ging, dann war das eben so. Dennoch wurde erwartet, dass die Kinder die strengen Regeln der Erwachsenenwelt beachteten und sich ebenso wie kleine – aber gewissermaßen rechtlose – Erwachsene verhielten.
So dürfte es heute in Europa nicht mehr vollkommen normal sein, dass 11jährige Ballettschülerinnen nach einem harten Schultag, gefolgt von Proben und Trainingsstunden, noch einen im Schulplan verankerten Tanzauftritt abzuleisten haben und ihre einzige Pause so bemessen war, dass sie hastig etwas herunterschlingen konnten. Weiter hoffe ich zumindest, dass die heutigen Kinder sich wohl kaum so sehr fürchten dürften, einem Erwachsenen einen Fehltritt zu beichten. Diese ganzen Prämissen sollten vor Lektüre – oder noch besser: vor dem Kauf – dieses Buches bedacht werden, denn manchmal erscheinen die Befürchtungen und Ängste der kleinen Delphine, die sich zu einem regelrechten Berg auftürmen, sehr eigenartig und für unsere Zeit nicht mehr verständlich. Zwar wurde diesem Buch ein Vorwort der Tänzerin Polina Semionova vorweg gestellt, doch befasst sich dieses mehr mit Erläuterungen zum Ballett der Pariser Oper und weniger mit der Situation der Kinder in dieser nicht allzu weit zurückliegenden Epoche.
Wer sich einmal an diese Lebensumstände der Pariser Ballettschülerinnen gewöhnt hat, der stellt alsbald aber auch erschreckt fest, dass sich hinter den kleinen grazilen Persönchen, die im weißen Tutu ein Bild vollendeter Anmut abgeben, garstiges Gedankengut verbirgt. Immerhin betrifft das alle Mädchen, denn selbst die Heldin Delphine ist sich nicht zu schade, in die beginnende Liebesbeziehung ihrer Mutter mit dem netten Nachbarn Frederic zu intrigieren, um zu verhindern, dass unerwünschte Informationen nach außen dringen.
Ganz dicke kommt es sogar, wenn sich Standesunterschiede zwischen den Mädchen auftun. Da wird gestichelt und gehetzt und gerne sitzen Delphines Freundinnen zusammen und bespotten boshaft und unnachgiebig jede vermeintliche Unzulänglichkeit der Klassenkameradin, die gerade vor ihren Augen in Ungnade gefallen ist. Solidarität wird auch allenfalls dann beschworen, wenn sie der Einzelnen nützen kann. Falls das der tatsächliche Umgangston zwischen Balletttänzerinnen sein sollte, dann dürfte das Mobbing hier tatsächlich erfunden worden sein.
Neben diesen ganzen Verwicklungen und Intrigen kommt das Tanzen – das laut Buchbeschreibung im Vordergrund stehen sollte – zu kurz. Die Proben und Mühen, die zum Erfolg oder zum großen Auftritt führen, werden kurz beschrieben, aber ein richtiges Mitleiden oder eine Begeisterung der Leser kann die Autorin nicht erreichen. Auch die Rolle der Delphine vermag nicht so recht zu überzeugen. Bei allem Talent und bei aller Mühe – was eigentlich bringt sie zum Tanzen, warum ist das ihr einziger großer Wunsch oder möchte sie nur einfach nicht die gängigen Frauenberufe der damaligen Zeit – Stenotypistin, Sekretärin oder Lehrerin – bedienen?
Fazit
Delphine über den Dächern richtet sich wenig an der generellen Entwicklung seiner Heldin zur Tänzerin aus. Die Geschichte wirft vielmehr ein großes Schlaglicht auf die wenigen Tage, die wegen einer Missetat einen möglichen Traum zum Scheitern bringen konnten. Natürlich ist auch eine solche Geschichte nicht uninteressant – aber mit Ballett hat sie eben nur am Rande zu tun.
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