Eine atemlos machende Geschichte, doch manchmal möchte man nur weinen
Nora wollte nur mit ihren Freunden Wes und Iris eine schnelle Einzahlung bei der örtlichen Bank vornehmen und schon sitzt sie im Schlamassel: Die drei Teenager sind mitten in eine Banküberfall mit Geiselnahme geraten und bald erkennt Nora zwei Dinge: Zum einen geht es den beiden Gangstern offensichtlich um wesentlich mehr als ein bisschen Bargeld und zum anderen – was viel schlimmer ist – scheinen beide zum Äußersten entschlossen zu sein und es sieht gar nicht danach aus, als würde die Geschichte für alle Geiseln ein gutes Ende nehmen. Immerhin hat die Sache – so gefährlich sie auch sein mag – etwas halbwegs Gutes: Bankräuber nehmen Teenager nicht sonderlich ernst. In diesem Fall sollten sie das aber besser tun, denn Nora ist jahrelang mit ihrer Mutter, einer berühmten Trickbetrügerin durch das Land gezogen und hat gelernt, wie man täuscht, sich verstellt und wie man betrügt. Sie kennt die Überlebensstrategien: Davonrennen, sich totstellen oder kämpfen und wenn die ersten beiden Optionen nicht mehr anwendbar sind – dann bleibt nur die Dritte.
Hetero-, homo- oder bisexuell – plötzlich ist das egal…
Das ist eine Warnung für alle, die noch einiges zu erledigen haben und dann damit anfangen „schon mal ein bisschen in diesem Buch zu lesen“: Tess Sharpe hat einen so spannenden Roman verfasst, dass viele verpasste Termine garantiert sind. Sie lässt ihre Heldin Nora schon zu Beginn mit einer unangenehmen Situation in die Geschichte starten, denn sie hat mit ihrem Ex-Freund Wes und ihrer neuen Liebe Iris einen gemeinsamen Termin bei einer Bank und hat erst kurz vorher geoutet. Naja, das heißt nicht so ganz geoutet, denn eigentlich weiß sie auch noch gar nicht so recht, wo die Reise hingehen soll. Dennoch ist die Stimmung nicht gerade die beste. Plötzlich sind aber Fragen der sexuellen Orientierung auf einen Schlag vollkommen nachrangig, denn mit dem Überfall stehen die drei Teenager plötzlich vor ganz anderen Problemen, müssen sie doch nun um ihr Leben und um das der anderen Geiseln fürchten.
Nora, wird mit fortschreitender Entwicklung langsam zur Heldin aufgebaut – aber zu einer Heldin wider Willen. Tess Sharpe zeigt behutsam, was sie unter der Fuchtel ihrer Mutter alles erleiden musste, um so zu werden wie sie jetzt ist. Ihre Erzeugerin schleppte sie als kleine Gehilfin durch das halbe Land und ging diverse Beziehungen mit zwielichtigen Männern ein, nur um mit deren Geld wieder zu verschwinden. Dennoch benutzten die Männer sowohl die Mutter als auch die Tochter für ihre Zwecke und wenn eine Erwachsene sicherlich absehen kann, was sie sich zumutet, ist das im Falle eines Kindes eine ganz andere Sache. Nora musste somit schon viel Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung erleben und auch wenn sie die jeweiligen Täter unter den Namen katalogisieren kann, die sie damals jeweils von ihrer alten Dame verpasst bekam, sind auch in ihrem jetzigen Leben tiefe Narben – körperlich und seelisch – geblieben. Dennoch hat diese unmenschliche Schule Nora gelehrt, sich zu wehren und die Aktionen der Bankräuber vorauszusehen. Diese Verbrechen der Vergangenheit, die an ihr begangen wurden, werden trotzdem nicht bagatellisiert – oder dienten möglicherweise einem letztlich „guten“ Zweck – sondern manchmal ist es so, dass der Leser zwar den Mut und die Kreativität unserer Heldin bewundert, aber auch abschnittsweise vor lauter Mitleid weinen möchte.
„Statt Kanonenfutter zu sein , bin ich zur Kanone geworden.“
Beeindruckend ist insbesondere, wie es Tess Sharpe immer weiter gelingt, die Spannungskurve hoch zu halten. Lange Zeit dachte ich auch, den Roman mit zehn von zehn Punkten zu bewerten. Einen einzigen Abstrich habe ich gemacht, da die Geschichte eines großen Streits zwischen den ehemaligen Liebespaar Nora und Wes nicht fertig erzählt wird und das Ende für mein Gefühl dann doch ein wenig abfällt. Möglicherweise ist das aber auch nur Kritisieren auf hohem Niveau.
Fazit
Eine Heldin wider Willen beschützt sich und ihre Freunde gegen die brutalen Übergriffe der Erwachsenenwelt. Tess Sharpe erzählt eine fesselnde, schreckliche und abschnittsweise bestürzende Geschichte einer verlorenen Kindheit, aber möglicherweise einer gewonnenen Zukunft.
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