Go ask Alice …
10 Jahre sind vergangen, seit Alice dem weißen Kaninchen gefolgt und ins geheimnisvolle Wunderland gepurzelt ist. Aus dem kleinen Mädchen ist eine intelligente, selbstbewusste junge Frau geworden, deren Erinnerungen an das bizarre Abenteuer von einst mehr und mehr verblassen. Und auch so hat sie mehr als genug um die Ohren: In ihrem beschaulichen Örtchen Kexford hetzt ein polemischer Politiker namens Ramsbottom gegen das Frauenwahlrecht, alles Fremde und so ziemlich jede auch nur ansatzweise progressive Idee – und ausgerechnet mit Mr. Coney, einem von Ramsbottoms Wahlkampfhelfern, will Alices Schwester Mathilda (selbst mit einem von Ramsbottoms hochrangigen Mitarbeitern, einem gewissen Mr. Headstrewth, liiert) sie verkuppeln. Da findet Alice den jungen Anwalt Mr. Katz deutlich interessanter, welcher sie auf Augenhöhe behandelt und einer der wenigen ist, der sich für den bunten Haufen aus aller Herren Länder zusammengewürfelter Straßenkinder auf dem Dorfplatz einsetzt. Wirklich zur Ruhe kommt die kreativ begabte Alice nur im Fotolabor ihrer etwas exzentrischen Tante Vivian. Doch als sie dort einige ihrer Fotografien, die sie auf einem ihrer Streifzüge durch Kexford geschossen hat, entwickeln will, traut sie ihren Augen nicht: Darauf befinden sich plötzlich altbekannte Gestalten aus dem Wunderland! Sollten die dortigen Einwohner Alice auf diese Art und Weise einen stillen Hilferuf schicken?
Schneller als ihr lieb ist findet Alice die Antwort auf diese Frage heraus, als es sie unvermittelt wieder ins Wunderland verschlägt. Doch ist es nicht mehr, was es einmal war: Alles ist in ein unheilvolles Blutrot getaucht, und die dem Wahnsinn anheimgefallene (nun, noch mehr anheimgefallene) Herzkönigin macht einen Wunderländer nach dem anderen in willkürlichen Schauprozessen einen Kopf kürzer. Nur mit Müh und Not kann Alice die Haselmaus, den verrückten Hutmacher und den Dodo vor einem schrecklichen Schicksal bewahren. Diese tragen ihr zu, dass die Herzkönigin mit ihren Machenschaften ein finsteres Ziel zu verfolgen scheint, und dass nur die vom weißen Kaninchen häufig erwähnte Mary Ann die prophezeite Heldin sein könne, die dem bösen Treiben ein Ende zu setzen vermöge. Doch Mary Ann ist wie vom Erdboden verschluckt. Also bleibt Alice nichts weiter übrig, als sich erneut durchs Wunderland zu schlagen, um mit der Unterstützung alter und neuer Bekannter Mittel und Wege zu finden, gegen die Herzkönigin in den Krieg zu ziehen und sie aufzuhalten. Vielleicht kann die geheimnisvolle Kreuzkönigin helfen …?
„Wäre es nicht schrecklich, wenn ich vergessen hätte, wer ich war, und dann herausfände, dass ich jemand ganz anders bin?“
Das Kinderbuch Alice’s Adventures in Wonderland, vom britischen Schriftsteller Lewis Carroll verfasst und 1865 erstmals veröffentlicht, ist längst zu einem Klassiker der Weltliteratur geworden. Kekse und Tinkturen, die einen wachsen oder schrumpfen lassen, eine stets in Rätseln sprechende Grinsekatze, Nichtgeburtstage, eine rauchende Raupe, eine wildgewordene Königin mit einem Hang zur Enthauptung, seltsame bis unmögliche Winkel, Orte und Ereignisse – im Wunderland regieren Chaos und Unsinn. Der Roman und seine Fortsetzungen entstammen einer literarischen Strömung, die ihre Hauptfiguren mit einer Aneinanderreihung verrückter Situationen konfrontiert, ohne die Handlung bewusst mit einem tieferen Sinn zu füttern. Umso schwieriger ist der Stoff zu adaptieren, was Walt Disney 1951 mit dem Zeichentrickfilm Alice im Wunderland kongenial in bunten, psychedelischen Bildern gelang (obwohl dieser nicht unbedingt zu den populärsten Werken des Animationsstudios gehört). Nun, zahlreiche Versionen später, darf sich auch Liz Braswell an der Geschichte versuchen.
Braswell hat schon mehrere Romane der Twisted Tales-Reihe verfasst, in welcher Alternativgeschichten zu berühmten Disneyklassikern erzählt werden, die manchmal einen etwas erwachseneren Anstrich haben als ihre Vorlage. Mit Alice im Bann der Herzkönigin: Was wäre, wenn Wunderland in Gefahr und Alice sehr spät dran wäre? legt sie eindeutig einen der bislang stärksten Bände der Serie vor.
Die Welt zu retten, war eine Sache. Sie zu reparieren, eine andere
Carrolls Ansatz einer bloßen Serie bizarrer Treffen ohne roten Faden verfolgt auch Braswell nicht weiter, sondern greift stattdessen Figuren und Themen aus dem Film auf, um eine Geschichte zu erzählen, in welcher Situationen und Personen aus Alices realer Welt im Wunderland „gespiegelt“ werden (Der Zauberer von Oz lässt grüßen). So lassen sich deutliche Parallelen ziehen zwischen der von der Herzkönigin ausgehenden Bedrohung im Wunderland und den politischen Spannungen in Kexford, womit das Buch eine unerwartete, aber überraschend gut funktionierende sozialkritische und sehr zeitgemäße Komponente erhält. Manchmal lässt sich eben auch unsere Wirklichkeit nur dann verstehen, wenn man sie als vollkommen abwegig begreift – alles eine Frage der Perspektive. Zudem kann Hauptfigur Alice von der ersten bis zur letzten Seite punkten – nicht nur mit der gewohnten Schlagfertigkeit, sondern auch mit einer guten Portion trockenem Humor.
Hier und da hätte der Plot etwas gestrafft werden können, wohingegen das Finale wiederum zu flott geraten ist. Auch kommen die ein oder anderen Wunderland-Bewohner, auf deren Wiedersehen man sich als Fan gefreut hätte, zu kurz. Doch hat die Autorin ein Händchen dafür, auch gänzlich neue Absurditäten zu schaffen, die sich nahtlos in die Textur des Originalfilms einfügen. In der Beschreibung des Wunderlands, wo alle vermeintlichen Gesetzmäßigkeiten des Lebens konsequent auf den Kopf gestellt werden, geht Braswell voll auf, sodass sich ihr Spaß an dieser irren Geschichte durchgängig auf die Leserschaft übertragen kann.
Fazit
Mit Alice im Bann der Herzkönigin landet Liz Braswell einen Volltreffer und zeigt, wozu die Twisted Tales-Reihe fähig sein kann! Dieses Buch ist eine spannende, gut durchdachte, erfrischend düstere und trotzdem auch äußerst witzige Ergänzung zum Zeichentrickklassiker, den sich vor allem Disneyfans (trotz seiner Länge) nicht entgehen lassen sollten!
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