Der Junge, der nicht wusste, wo er hingehörte
Sintojunge Mano hat drei Konzentrationslager überlebt, ehe er auf einen Todesmarsch in Richtung Westen geschickt wurde. Von da wurde er befreit und nach Frankreich gebracht. Er weiß nicht, wer von seiner Familie noch lebt. Doch er hat zu große Angst, sich zu offenbaren, weshalb auch nicht nach ihnen gesucht werden kann. Daher wächst er weiter in Frankreich auf – die Dämonen aber lassen ihn nicht los ...
„Ich hab eine große Angst. Ich war gefangen für das, was ich bin. Und hier bin ich wieder falsch. Und ich kann niemals wieder nach Hause, weil man sterben kann, wenn man falsch ist.“
Mano: Der Junge, der nicht wusste, wo er war ist ein bewegendes Porträt eines zutiefst traumatisierten Jungen. Als er von sowjetischen Soldaten gefunden wird, beschwört ihn eine Französin, keinem zu sagen, dass er Deutscher ist. Denn mit den Deutschen will niemand mehr etwas zu tun haben, und die Angst, dass jemand seine wahre Identität herausfinden könnte, zwingt ihn, den Mund zu halten. So landet er schließlich in Frankreich und wird von der Familie Fouquet aufgenommen, die ihn wie ihren Sohn behandeln.
Doch Manos Seele hat tiefe Wunden: Er hat die ständige Angst, allein oder im Dunklen zu sein, Albträume lassen ihn schreiend aufwachen, und Kinder, die sich über ihn lustig machen und als Deutschen bezeichnen, verprügelt er aufs Brutalste. Die Fouquets wissen nicht mehr weiter, geben ihn sogar in ärztliche Behandlung, die ihn aber noch mehr verstört.
Zwar lernt Mano immer besser Französisch und fasst auch Vertrauen zu den Fouquets, doch ist er stets hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sich zu offenbaren, in der Hoffnung, seine Familie möglicherweise doch noch zu finden, und der Angst, als Deutscher den Naziverbrechern gleichgestellt und abgeschoben zu werden oder Schlimmeres. Glaubhaft vermittelt Anja Tuckermann diese Zerrissenheit und die Seele eines kleinen Jungen, deren Heilung ein langer Kampf ist.
Ein Buch, das noch lange beschäftigt
Die Geschichte von Mano alias Hermann Höllenreiner ist bekannt, da die Familie Höllenreiner beispielhaft für viele Sinti- und Roma-Familien steht, die im Nationalsozialismus Opfer des Porajmos wurden, und damit neben dem bekannteren Holocaust untergehen. Doch waren Jüdinnen und Juden zwar zahlenmäßig die am stärksten Verfolgten, es wird aber klar, dass auch viele andere Menschen nicht ins Rassenbild der Nazis passten.
Anja Tuckermann hat Manos Geschichte erzählt, weil dieser zum einen noch lebt und daher intensiv interviewt werden konnte, und andererseits viele Dokumente erhalten geblieben sind, die diese Geschichte belegen. Auch hat sie Menschen sprechen lassen, die Mano in den anderthalb Jahren, die er in Frankreich verbracht hat, gekannt haben. Dadurch wird das Buch ein historisches Zeugnis von großem literarischen Wert.
Da aus Manos Sicht erzählt wird, der zu der Zeit 11 bzw. 12 war, taucht man tief in eine zerrüttete kindliche Psyche ein, die Schreckliches erlebt hat. Einschübe in die Gedankengänge des traumatisierten Kindes sind nur schwer zu verkraften, da sie so authentisch sind, dass man schlucken muss, wenn man sie liest. Dementsprechend verdaut man das Buch nicht einfach so; es braucht Zeit, das Geschriebene zu verstehen und zu verarbeiten. Nachverfolgen kann man das dann noch anhand von 22 Fotos, die Manos Leben widerspiegeln.
Fazit
Es ist ein Zeugnis, das einiges abverlangt, aber deswegen auch so authentisch und real ist, trotz der über 75 Jahre, die seitdem vergangen sind. Anja Tuckermann hat Manos Geschichte emotional aufgearbeitet und für die Nachwelt zugänglich gemacht.
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