Zerrissen zwischen zwei Kulturen
Wie jedes Jahr stößt die junge Samin Ravna zum Sommerlager der Rentierzüchter, um zusammen mit ihrer Mutter ihre Kälber zu markieren. Für Ravna, die eine Polizeischule in Norwegen besucht, ist das eine große Herausforderung. Denn in den Augen der Samen ist Ravna eine Verräterin, die sich auf die Seite der Norweger geschlagen hat. Noch immer sitzt die jahrhundertelange Herabsetzung des samischen Volkes durch die Weißen tief in den Herzen der Rentierzüchter. Ravna weiß, dass ihre Mutter Hedda mit dem Schicksal hadert, weil ihre einzige, noch verbliebene Tochter sich für diesen Weg entschieden hat. Entsprechend frostig ist das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter.
Dennoch ist für Ravna klar, dass sie sich hinter ihre Mutter stellt, als ihre beiden Onkel Anstalten machen, Hedda von der Spitze der Sippe zu vertreiben. Seit kurzem ist es nämlich möglich, die Rechte am Züchten der Rentiere zu verkaufen und Heddas Brüder wittern ein gutes Geschäft. Als Ravna in einer Höhle auf die sterblichen Überreste einer seit zehn Jahren vermissten jungen Frau stößt, ist das Chaos perfekt. Denn im unwegsamen Gebiet des Sommerlagers taucht ausgerechnet der Ermittler Rune Thor auf, der durch seine ruppige Art manche vor den Kopf stößt. Und Rune Thor will, dass ihm Ravna bei den Ermittlungen zur Hand geht – mit dem Erfolg, dass sie noch mehr in die Fronten zwischen Samen und Norweger gerät.
Viel Wissenswertes über die Samen
Die Autorin Elisabeth Hermann hat sich umfassend mit der Kultur der Samen befasst. So kann sie mit einer feinfühligen und doch direkten Art die Zerrissenheit sichtbar machen, in der die Samen heute leben. Mit der jungen Heldin Ravna hat die Autorin die passende Figur geschaffen, um diese Problematik darzustellen. Sehr schön ist dabei, dass Ravna immer wie ein Mensch handelt – und dabei auch hin und wieder Fehler macht, oder Situationen falsch einschätzt. Damit zeichnet Elisabeth Hermann ein glaubwürdiges Bild einer jungen Frau, die den Spagat zwischen Traditionen und modernem Leben versucht. Dass sie immer wieder aneckt, gehört dazu. Durch das Setting – das Sommerlager der Rentierzüchter, die ihre Kälber markieren wollen – kann die Autorin auch gleich einiges Wissenswerte über das Volk der Samen vermitteln. Schön, dass sie dabei von verklärten und beschönigenden Bildern absieht.
Krimi mit Längen
Erneut gerät Ravna in einen Kriminalfall, der ihr Volk betrifft. Wie schon in Tod in der Arktis, das auch Buch des Jahres 2021 geworden ist, ermittelt sie an der Seite des kauzigen Rune Thor, der gegenüber dem ersten Band noch eine Spur unzugänglicher geworden ist und damit fast etwas zu stark überzeichnet ist. Auch der Kriminalfall selber ist nicht ganz so rund, wie derjenige von Band eins – allerdings ist dies Jammern auf hohem Niveau. Denn im Großen und Ganzen kann auch Die Tote in den Nachtbergen überzeugen und vor allem das Ende sorgt nochmals für eine große Portion Dramatik. Störend beim Lesen wirkt das nicht ganz nachvollziehbare optische Abheben bestimmter Worte – gerade die Rendrifters kommen häufiger vor und es entsteht der Eindruck, als würde man dem Publikum nicht zutrauen, das Wort wiederzuerkennen, wenn es nicht kursiv gedruckt wäre. Etwas unsinnig scheint auch, dass gewisse Funktionen bei der Polizei in der norwegischen Sprache angegeben sind – es bereichert den Verlauf der Geschichte nicht wirklich.
Fazit
Ravna ist eine jener Protagonistinnen, von der man unbedingt mehr lesen möchte. Das hängt zum einen von der starken Figurenzeichnung der Autorin ab, zum anderen auch vom Schauplatz im hohen Norden. Dass dabei der Kriminalfall manchmal fast wie zweitrangig wirkt, mag man gut verkraften, bekommt man doch ein wunderbar facettenreiches und stimmiges Bild von den Samen und ihrer Kultur vermittelt.
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