White Bird - Wie ein Vogel

R. J. Palacio ist besonders für ihren Roman Wunder bekannt, in dem es um einen kleinen Jungen mit angeborener Gesichtsdeformation geht. Als er mit 11 das erste Mal in eine normale Schule geht, wird er dort besonders von seinem Mitschüler Julian gemobbt und für seine Andersartigkeit ausgegrenzt. In White Bird – Wie ein Vogel lässt die Autorin ihre Leser Julian von einer ganz anderen Seite kennenlernen. Für einen echten Neuanfang hat er die Schule gewechselt und bereut sein Handeln an der alten Schule inzwischen aufrichtig. Für den Sozialkundeunterricht hat er dort nun die Aufgabe bekommen, einen Aufsatz über jemanden zu schreiben, den er kennt. Seine Wahl ist dabei auf seine Grandmère Sara gefallen, die als jüdisches Mädchen den Zweiten Weltkrieg in Frankreich erleben musste und ihm nach kurzem Zögern ihre tragische Geschichte erzählt, die in einigen Bereichen auch Parallelen mit Julians eigener unrühmlicher Vergangenheit aufweist…

Fliehen, Verstecken und ständige Angst

Sara ist etwa 13 Jahre alt und lebt mit ihren Eltern, ihre Mutter ist Dozentin an der Uni und ihr Vater Arzt, in Aubervilliers-aux-Bois, einer eigentlich freien Zone. Ihre Eltern sind angesehen und es fehlt ihnen an nichts, bis im Frühjahr 1943 plötzlich Soldaten in Saras Schule kommen und alle jüdischen Kinder mitnehmen wollen. Durch glückliche Umstände entkommt Sara, wobei ihr von ihrem Mitschüler Julien geholfen wird. Durch eine Polio-Erkrankung sind Juliens Beine gekrümmt, er ist auf Krücken angewiesen und wird einerseits wegen seiner Gestalt, andererseits aber auch wegen seiner ärmlichen Herkunft von seinen Mitschülern und bisher auch von Sara immer wieder verspottet und gemieden. Gemeinsam fliehen sie durch die Kanalisation bis zu Juliens Elternhaus, wo Sara von seiner Familie in einer abgelegenen und verlassenen Scheune hinter einer Mauer aus Stroh versteckt wird.

Nicht nur Sara selbst muss mit der ständigen Angst leben, doch entdeckt zu werden, auch für Julien und seine Familie bedeutet das Verstecken einer Jüdin ein hohes Risiko. Jeden Tag nimmt Juliens Mutter große Umwege in Kauf, um Sara mit allen notwendigen Dingen zu versorgen und auch Julien kommt sie jeden Abend im Schutz der Dunkelheit besuchen. Mit der Zeit entsteht eine tiefe Freundschaft zwischen den beiden Teenagern und Sara bereut sehr, wie schlecht sie Julien früher behandelt hat. Doch Vincent, ein ehemaliger Mitschüler, der sich der Miliz angeschlossen hat, ahnt, dass Juliens Familie Sara versteckt und verfolgt ihn. Zwar schlägt er ihn zunächst nur zusammen, doch lässt er nicht locker und wird zu einer großen Gefahr…

Leben, Tod, Hoffnung

R. J. Palacio widmet sich in ihren Büchern Themen, die nicht einfach sind. Geht es in Wunder um Themen wie Vorurteile und Mobbing, thematisiert sie in White Bird Grausamkeiten, die während des Zweiten Weltkriegs passierten. Dabei nimmt sie die Perspektive Saras ein, die als jüdisches Mädchen in Frankreich den Hass und die stetige Gefahr des Krieges hautnah erlebt. Sara, die eigentlich aus privilegierten Verhältnissen stammt, muss dabei viele schreckliche Erfahrungen machen. Sah sie während ihrer Schulzeit auf ärmere oder anderweitig benachteiligte Mitschüler herab, lernt sie durch ihre Freundschaft mit Julien, was wirklich im Leben zählt und wie wenig eine gute Herkunft über den Charakter aussagt, wie auch das Beispiel des verräterischen Vincent zeigt.

Schön ist, dass R. J. Palacio mit ihrem neuesten Roman an ihr anderes Buch anknüpft, obwohl es thematisch in eine ganz andere Richtung geht. In der Rahmengeschichte taucht Julian wieder auf, der in Wunder als Mobber keine rühmliche Rolle inne hatte, der nun aber rehabilitiert wird und eine ganz andere Seite von sich zeigen kann. Zwar fühlt man sich während des Lesens in Sara hineinversetzt und empfindet mit ihr, doch hilft die Rahmengeschichte dabei, die Distanz zu wahren und von den Grausamkeiten nicht zu sehr erschüttert zu werden und an Stellen, in denen es um Leben und Tod geht, im Hier und Jetzt zu bleiben. Dieser Aspekt hilft dabei, dass dramatische Ereignisse die jungen Leser nicht zu sehr erschrecken. Zwar ist es sehr wichtig, die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg und seine Opfer wach zu halten und vor den grausamen Handlungen der Täter zu warnen, doch kann das Buch für Kinder in diesem Alter auch verstörend wirken, sodass es entweder gemeinsam mit den Eltern oder erst zwei bis drei Jahre später gelesen werden sollte.

Sowohl sprachlich als auch vom Aufbau der Handlung ist die Geschichte gut gelungen. Die Story ist spannend und so unvorhersehbar, wie das Leben im Zweiten Weltkrieg. Kann man in anderen Büchern relativ sicher von einem Happy End ausgehen, ist das hier nicht der Fall und es kommt auch zum Tod von mehr als einer Figur. Die Illustrationen am Anfang eines Kapitels helfen dabei, sich eine genauere Vorstellung der Personen und Handlungsorte zu machen, spielen jedoch nur eine untergeordnete Rolle.

Fazit

Ein toller Roman, der Geschichte lebendig werden lässt und sowohl durch seine spannende Story als auch durch seinen Aufbau inklusive Rahmengeschichte überzeugen kann. Schön ist auch, dass R. J. Palacio auf eine Figur aus einem ihrer anderen Romane zurückgreift, die hier von einer ganz anderen Seite gezeigt wird.