Emanzipation im Nachkriegsdeutschland
Der Krieg scheint in dem kleinen Dorf, in dem Johanna lebt, mal mehr, mal weniger weit weg. Zwar kämpfen die Menschen auf persönlicher Ebene mit mangelnder Nahrungsmittelverteilung und Knappheit bei allem und die Männer sind entweder im Krieg geblieben oder noch in Gefangenschaft. Die wahren Auswirkungen dieses Vernichtungskrieges sind aber noch nicht ins Dorf vorgedrungen – oder einfach kein Thema im alltäglichen Leben.
Die Frauen in Johannas Haus kümmern sich um die Gastwirtschaft, die Großmutter achtet weiterhin auf Anstand und Tradition und alle warten auf die Rückkehr des Vaters.
Es geht immer weiter
Die Frauen haben sich in ihrem Leben ohne Mann eingerichtet. Die Großmutter schafft es, die Bierfässer aus dem Keller zu wuchten, die Mutter kocht und Tante Fanni arbeitet in der Stadt und hilft am Wochenende in der Gastwirtschaft. Johanna navigiert die Schule, hat erste Schmetterlinge im Bauch und beobachtet ganz genau die Vorbilder, die sich ihr bieten. Sie sieht die Engstirnigkeit und kurze Leine der Großmutter, der sich Johannas Mutter ohne zu murren unterordnet und Fannis Heimlichkeiten, die diese immer weiter von ihrer Familie entzweit.
Ein Nachbar, der rote Baron, ein ehemaliger Weggefährte ihrer Mutter und politisch aktiv, wird für das Mädchen zu jemandem, mit dem sie Dinge besprechen kann, die sonst niemanden interessieren. Er schärft ihren Blick auf die Vergangenheit, auf Unausgesprochenes und ihre Möglichkeiten, abseits aller familiären Verpflichtungen.
Als der Vater aus der russischen Gefangenschaft heimkehrt, reißt er das Ruder der Familie wieder an sich und Johanna beginnt einen eigenen Weg.
Ein Klassiker neu aufgelegt
Paul Maar, der Erfinder des Sams, hat in dem schon 1990 erschienenen Jugendbuch Kartoffelkäferzeiten viele persönliche Erinnerungen zu einer Geschichte über die Nachkriegsjahre in einem westdeutschen Dorf verwoben. Fernab der Front und ohne genauere Lektüre der Tageszeitungen erlebt das Mädchen Johanna das alltägliche Leben nach einem Krieg, das bestimmt ist vom Festhalten an Traditionen, Mangel und Neuanfang. Die Gräuel des Krieges werden kaum thematisiert, außer jene, die die Menschen hier betreffen: Die Amerikaner als ferne Befreier und das Fortbleiben der Männer. Sogar das Schicksal der geheimnisvollen Flüchtlinge, denen die Familie eine Kammer freiräumen muss, bleibt im Dunkeln. Nur ganz kurz blitzt eine ferne Angst auf, als Johanna von den Hintergründen zum sehr gruseligen Verhalten einer zurückgezogen lebenden Frau im Dorf erfährt.
Das Hauptaugenmerk liegt auf den Frauen in Johannas Familie. Die Großmutter ist das liebevolle und herrische Familienoberhaupt, die weiß, wie sie ihren Willen durchsetzt. Dazu kommt die andere Großmutter, welche der Zerstörung in Nürnberg zu entrinnen versucht und um ihren Platz in der Familie kämpfen muss. Johannas Tante Fanni ist zwischen der restriktiven Welt des Dorfes und den neuen Zeiten hin- und hergerissen und Johannas Mutter scheint sich der Fremdbestimmung ergeben zu haben.
Johannas erste Liebe erscheint auch nicht so einfach, sodass ihr ihre kurzen, aber erleuchtenden Begegnungen mit dem roten Baron die nötige Inspiration für ein selbstbestimmtes Leben verschaffen.
Kartoffelkäferzeiten ist ein eindrücklicher Roman, der ganz verschiedene Aspekte des täglichen Lebens der einfachen Bevölkerung nach dem zweiten Weltkrieg thematisiert. Im Hinblick auf zwei sehr abwertende Begrifflichkeiten am Ende des Buches hätte ich mir aber eine Überarbeitung im Hinblick auf eine sensiblere Sprache gewünscht.
Fazit
Kartoffelkäferzeiten beschreibt die persönlichen Wirren nach einer großen Umwälzung, von der nur kleinere Nachwehen ein Dorf erreichten. Zwischen Traditionen und dem Mann als bestimmendes Oberhaupt einer Familie, kann die Katastrophe des Krieges auch als Beginn gesehen werden.
Deine Meinung zu »Kartoffelkäferzeiten«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!