Ein berührendes Zeitzeugnis, das unter die Haut geht
Karin ist dreizehn und genießt den Sommer 1961 aus vollen Zügen, bis ihr eine Freundin ein Buch über die Judenverfolgung im Dritten Reich zu lesen gibt und ihre heile Welt plötzlich ins Wanken gerät: haben die Erwachsenen wirklich von nichts gewusst?
Karin lebt mit ihrer Familie in einer Siedlung außerhalb Hamburgs in der Nähe der Elbe. Mit ihren Eltern versteht sie sich gut, wenn da nur nicht ihr kleiner, nerviger Bruder wäre….
Das Leben ist so schön: Es sind Sommerferien und Karin freut sich über die unbeschwerte, freie Zeit und die gemütlichen Familienabende vor dem neuen Fernsehgerät. Da liest sie auf Anregung ihrer besten Freundin ein Buch über jüdische Kinder im Nationalsozialismus und danach stellt sie alles in Frage. Haben die Erwachsenen, vor allem ihre Eltern, nichts gewusst, so wie ihre Mutter behauptet, als sie sie zur Rede stellt?
Karin will sich mit dem Totschweigen der Erwachsenen nicht abfinden
Was hat es mit dem alten Foto im Familienalbum auf sich, das Soldaten in der Kriegszeit mit angelegten Gewehren zeigt? Welche Rolle hat ihr Vater als Soldat im Nationalsozialismus gespielt?
Karin fängt an zu rebellieren und die Autorität ihrer Eltern anzuzweifeln. Diese vertreten zum Beispiel die NS-Parole „Eine deutsche Frau schminkt sich nicht“, und wollen nicht, dass sie sich die kindlichen Zöpfe abschneidet und eine flotte Ponyfrisur schneiden lässt.
Ein halbes Jahr später kommt es zur großen Flut und damit zur endgültigen Vertreibung aus dem unbeschwerten Paradies ihrer Kindheit. Nach einem Unwetter steigt das Wasser der Elbe unaufhaltsam an. Der Vater ist auf Nachtschicht und kann nicht helfen. Karin rettet sich mit einer Nachbarin aufs Dach, beide kämpfen ums nackte Überleben und halten sich am Schornstein fest, während das Wasser weiter ansteigt und um sie herum Nachbarn und Haustiere ertrinken, die es entweder nicht mehr rechtzeitig ins Freie geschafft haben oder deren Dächer weniger hoch liegen als das von Karins Haus. Außerdem wurden sie in der Panik von Karins Mutter und Bruder getrennt. Es ist mitten in der Nacht, bitterkalt und erst nach vielen Stunden werden beide aus der Luft per Hubschrauber von Bundeswehrsoldaten gerettet.
Nach bangen Tagen in einem Auffanglager findet Karin ihre Familie wieder. Von der Regierung gibt es eine Entschädigung, Karins Familie zieht in eine Neubauwohnung in einem Hochhaus, weit weg vom alten Zuhause. Karin geht in eine neue Schule, findet neue Freunde, versucht mit diesen über die Vergangenheit und die Schuld der eigenen Eltern zu reden. Das sind zwar mühsame und stockende Gespräche, die aber heilsamer sind als das Totschweigen der Erwachsenen, denn „vorbei ist eben nicht vorbei“
Ein wichtiges Zeitdokument gegen das Vergessen
Jugendbücher über den Nationalsozialismus gibt es viele, aber kaum Bücher über Jugendliche unmittelbar nach Kriegsende oder in der Nachkriegszeit. Umso wichtiger sind solche mutigen Bücher wie dieses, die diese Lücke schließen und die Jugend der Großeltern der Leser lebendig werden lassen.
Der Krieg und die Gräuel der Nazi-Zeit liegen bald achtzig Jahre zurück und die Verschwiegen- und Verlogenheit der Nachkriegszeit droht ebenso in den Geschichtsbüchern zu verschimmeln.
Zeitzeugnisse wie dieses Buch helfen gegen das Vergessen und fordern den jugendlichen Leser auf, vielleicht selbst Nachforschungen in der eigenen Familie anzustellen und sich wie Karin die Frage zu stellen „Was hätte ich damals getan?“
Ganz behutsam geht die Autorin an das schwierige Thema der Schuld heran, vieles wird nur angedeutet und der Leser wird nie erfahren, was Karins Eltern genau im Dritten Reich gemacht haben. Sie bietet auch nicht mit erhobenem Zeigefinger irgendwelche Patentlösungen an, wie Karin am besten mit der Situation fertig werden könnte. Indirekt zeigt sie jedoch am Beispiel von Karin und ihren Freundinnen, dass Reden hilft.
Das Buch ist in drei übersichtliche und sinngemäße Teile unterteilt, die knapp betitelt sind, und dem Leser helfen, den Geschehnissen mit ihren Zeitsprüngen zu folgen. Auch die Sprache ist erfrischend unsentimental, selbst bei schwierigen Kapiteln wie der großen Sturmflut.
Die Autorin wurde selbst nur zwei Jahre nach Karin geboren und obwohl wir nicht wissen, wie viel von dem Buch autobiografisch ist, überzeugt das Buch durch seine Wahrhaftigkeit, z.B. beim Beschreiben der Charaktere, allen voran die Figur der Karin oder ihrer Eltern, die mit den Fragen ihrer heranwachsenden Tochter vollkommen überfordert sind.
Eine weitere Stärke des Buches liegt in der Schilderung des spießigen Miefs der Wirtschaftswunderzeit mit seinen Fernsehabenden mit Salzstängchen und echten Perserteppichen, die man sich endlich leisten kann und deren Fransen von der besitzerstolzen Mutter liebevoll gekämmt werden.
Fazit
Eine spannende Coming-of-Age-Story aus der deutschen Nachkriegszeit, der man viele Leser ab wünscht und die in jeder Jugendbibliothek vertreten sein sollte.
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