Mythische Mondmächte und mangelhafte Mutterliebe
Es war einmal vor langer Zeit, da regierte ein beim Volk beliebtes Königspaar. Nur ein Kind fehlte noch zum vollkommenen Glück. Doch als die Königin schließlich schwanger wurde, befiel sie eine lebensbedrohliche Krankheit. Zum Glück gab es weise Ratgeber, die sich noch an die Zauberblume erinnerten, die einst aus einem Sonnentropfen erwachsen war. Der Königin wurde ein Tee aus den Blütenblättern dieser Blume zubereitet, und schon bald war sie genesen und brachte ein gesundes Mädchen mit silbernem Haar zur Welt. Doch keiner ahnte, dass eine Verwechslung vorlag: Der Tee war nicht aus der Blume namens Sonnentropfen, sondern aus der Blume namens Mondtropfen gewonnen worden. Die übernatürliche Kraft der Blume wirkte in dem Mädchen fort, und ein Gefühlsausbruch von ihr endete für eine Dienstmagd unbeabsichtigt tödlich. Schweren Herzens beschloss das Königspaar, dass die Geschichte unter Verschluss gehalten, ihr Mädchen für tot erklärt und zu seinem eigenen Schutz in der Obhut einer vertrauensvollen Person fernab der Welt aufwachsen sollte.
So gelangt die kleine Rapunzel in die Hände ihrer Ziehmutter Gothel, die sie in einen versteckten Turm sperrt und mit einer Mischung aus Zuneigung und Herabsetzung an sich bindet. Gothel erzählt Rapunzel, dass die magischen Kräfte ihres Haars für den Tod ihrer Eltern verantwortlich seien und sie nicht hinausdürfe, da sie eine Gefahr für andere darstelle. Doch die selbstsüchtige, gierige Gothel, die vor langer Zeit die Blume Sonnentropfen fand und für sich behielt, um ewig jung und schön zu bleiben, verfolgt ihre ganz eigenen Pläne: Kurz nach Rapunzels 19. Geburtstag möchte sie diese unter benachbarten Adligen versteigern, die mit Sicherheit eine Verwendung haben für ein Mädchen mit Haaren, die als Waffe gelten. Genau diesen Zeitpunkt wählt Rapunzel, sich ihren größten Wunsch zu erfüllen und endlich einmal aus ihrem Gefängnis auszubüxen. Auf ihrem Abenteuer begegnet sie Gefährten wie dem aufschneiderischen Schlitzohr Flynn Rider, der taffen Diebin Gina, deren Mutter, ihres Zeichens eine kluge Zauberin – und findet erschütternde Wahrheiten über sich selbst, ihre Herkunft und ihre Kräfte heraus …
Varium et mutabile
Disneys „Twisted Tales“-Reihe, in welcher Alternativgeschichten zu den bekanntesten Animationsklassikern erzählt werden, geht in eine weitere Runde. Diesmal wird ein Märchen gesponnen, welches die wichtigsten Elemente aus Disneys Rapunzel-Version Neu verföhnt enthält, diese aber zu einer neuen Story arrangiert. So ist Rapunzels Haar nun silbern, es hat gänzliche andere magische Fähigkeiten, die im Film so zentralen schwebenden Lichter erhalten eine neue Bedeutung, und es tauchen neue Figuren und Situationen auf. Liz Braswell, die für die Serie schon u.a. Bücher zu Arielle, Die Schöne und das Biest und Alice im Wunderland schreiben durfte, zeichnet sich für diese Neuinterpretation des charmanten Hits von 2010 verantwortlich – schießt aber ein wenig übers Ziel hinaus.
„Das Leben ist kompliziert. Genau wie Mütter oder Macht.“
Zum ersten Mal bei den „Twisted Tales“wird die Geschichte in eine Rahmenhandlung eingebettet, welche auf der Metaebene erklärt, warum eine neue Fassung des bekannten Märchens entsteht. Dabei erfindet ein Junge namens Brendan den Lieblingsfilm seiner krebskranken Schwester neu, um sie von der Chemotherapie abzulenken. In ihrem Nachwort eröffnet Braswell, dass diese Rahmenhandlung sehr persönlich für sie ist. Tatsächlich kommt diese im großen Ganzen etwas zu kurz, spiegelt die Hauptstory aber stimmig wieder und lockert sie auf.
Die Idee, Rapunzel mit den magischen Kräften der „falschen“ Blume auszustatten und dies zum Dreh- und Angelpunkt des Plots zu machen, ist eine simple Prämisse, die aber gut funktioniert, auch wenn dadurch vieles eher unverändert bleibt. Dass Rapunzel eingesperrt wird, damit sie nicht die Kontrolle über ihre Kräfte verliert und diese ungewollt Schaden anrichten, und dass sie von ihrer einzigen Bezugsperson manipuliert und belogen wird, wirkt wie eine zusammengewürfelte Disney-Mischung aus Neu verföhnt, Der Glöckner von Notre-Dame und Die Eiskönigin. Durch die Adligen, die Rapunzel ersteigern wollten und ihr nach ihrem Verschwinden auf den Fersen sind, gewinnt das Abenteuer an Dringlichkeit. Doch Braswell wollte so viele Handlungsfäden in dem Buch unterbringen, dass ihr diese mehr und mehr entgleiten. So ist die Geschichte sowohl überlang als auch etwas überladen. Und gerade das Finale, in welchem Braswell die (nicht fiktive!) ungarische Gräfin Báthory, die angeblich gern in Jungfrauenblut badete, als Endgegner nutzt, ist zwar originell und unterhaltsam, aber selbst für ein „Twisted Tale“ein wenig zu abgehoben.
Fazit
Braswell bietet fantastische neue Ansätze – Rapunzel entdeckt, dass sie die Kräfte ihres Haars sehr wohl kontrollieren kann und diese je nach Mondphase vielseitig wirken – als auch das Herzstück des Originalfilms: Rapunzels Selbstverwirklichung und Ablösung von ihrer toxischen „Mutter“. Doch beides geht in einer zähen und verworrenen Story leider etwas unter. Verlockende Freiheit kann sich daher nicht in die Highlights der „Twisted Tales“ einreihen.
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