Der Roman lässt tief in eine andere Kultur blicken
Evren hat Träume. Sie möchte Medizin studieren. Doch davor türmt sich eine riesige Wand des Schweigens auf. Denn seit ihr Bruder plötzlich verschwunden ist, ist Evren verstummt. Die Ärzte diagnostizieren Mutismus. Evren bewegt sich seither in sehr engen Grenzen und trägt die ganze Last für die Familie auf ihren Schultern. Dabei hadert sie insgeheim mit ihrem Los – sie vermisst ihren Bruder schmerzlich und ist gleichzeitig zornig auf ihn, der sie mit der ganzen Verantwortung alleine zurückgelassen hat. Als Evren Talhah begegnet, bröckelt die Mauer, die sie um sich gebaut hat etwas. Talhah, der selber unter dem Eindruck einer Geschichte von Flucht und Verlust steht, dringt nach und nach zu Evren vor und ganz langsam setzt ein Heilungsprozess ein. Evren und Talhah helfen sich gegenseitig.
Eine andere Kultur
Der Zugang zu diesem intensiven Roman für junge Erwachsene aus der Feder von Rabia Doğan unterscheidet sich je nach persönlichem Hintergrund stark. Vor allem junge Menschen, die selber einen Migrationshintergrund haben, werden die Beweggründe von Evren gut nachvollziehen können. Die Leserinnen und Leser hingegen, die in der westlichen Kultur verankert sind, dürfte sich die eine oder andere Situation befremdlich anfühlen. Insbesondere die Bemühungen Evrens, ihre eigenen Bedürfnisse zugunsten dem Wohl der anderen Familienmitglieder absolut zu unterdrücken, lassen manche Leserinnen und Leser etwas ratlos zurück. Hier zeigt sich deutlich, wie der kulturelle Hintergrund das Verhalten der betroffenen Personen prägt. Kein Widerspruch ist dabei, dass die anderen Familienmitglieder Evans Selbstaufgabe hinnehmen, ohne sich ernsthaft für die junge Frau einzusetzen. Dieser Blick auf eine andere Kultur wird bei den einen oder anderen westeuropäisch-geprägten Lesenden das Verständnis für das Verhalten von jungen Migrantinnen und Migranten im eigenen Umfeld wecken.
Bedürfnis, wachzurütteln
Sehr schön stellt die Autorin hier dar, wie es der jungen Frau buchstäblich die Sprache verschlägt ober der Belastung, die so plötzlich über sie gekommen ist. Dennoch wird manchmal das Bedürfnis wach, die Protagonistin wachzurütteln und sie auf wieder auf ihre eigenen Bedürfnisse aufmerksam zu machen. Rabia Doğan reizt diese Zerrissenheit allerdings etwas gar stark aus. Die Geschichte bekommt dadurch immer mal wieder einen sehr trägen Fluss und man ist geneigt, die Lektüre zu unterbrechen. Diese sich stark ziehenden Passagen sind es letztlich, die dem Roman etwas von seiner Intensität rauben. Dazu kommen einige Klischees, über die die ansonsten mit einer versierten Feder und einer gesunden Emotionalität schreibenden Autorin stolpert.
Talhah als mutmachender Gegenpart zur eher resignierten Evren ist eine geschickt gewählte Figur, die auf die Geschichte nicht nur ausgleichend wirkt; er bringt auch weitere Aspekte zu den Themen Migration, Rassismus und unterschiedliche Kulturen ein.
Fazit
Dieser Roman trägt viel zum Verständnis von westlich geprägten Leserinnen und Leser für das Schicksal von Migrantinnen und Migranten bei. Er lässt tief in eine andere Kultur blicken und rückt einige Verhaltensweisen, die vielleicht vorher auf Unverständnis gestossen sind, in ein völlig neues Licht.
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