Der Sommer, als wir träumen lernten

Zumindest in einem sind sich Alex, Grete, Jannis und Leo einig: Der Boat-Trip durch Schweden ist eine Strafe. Sie alle fühlen sich von ihren Eltern abgeschoben in ein Therapie-Camp für schwer erziehbare Jugendliche. Die selbstbewusste Alex schreckt nicht davor zurück, sich notfalls mit Gewalt ihren Weg durchs Leben zu bahnen. Aber ohne ihre beste Gang-Freundin Jessy fühlt sie sich nicht komplett. Leos Stützpfeiler sind zwei Dinge: rauchen und zocken. Für ihn ist die Reise ein kalter Entzug. Grete lebt in ihrer eigenen Welt aus Lügen, die nun wie ein Kartenhaus in sich zusammenzufallen droht. Bleibt noch Jannis, den eine gähnende Leere quält, welche nicht selten zu Gewaltausbrüchen und gefährlichen Aktionen führt. Keine Frage, die Tour durch Schweden wird kein Entspannungsurlaub…

Kanufahren, Zelten und rundherum nichts als Natur. Im Nirgendwo sollen Alex, Grete, Jannis und Leo ein wenig Abstand finden, aus den Negativspiralen des Alltags entfliehen. Einfacher gesagt als getan, denn dafür müssen die vier erst einmal bereit sein. Mit Tommi haben sie einen Betreuer an ihrer Seite, der sie verstehen sollte. Schließlich hat auch er eine heftige Jugend hinter sich. Eine Zeit, die harte Konsequenzen nach sich gezogen hat. Kann er zu ihnen durchdringen?

„Und mit jedem Tag, an dem ihr Veilchen weiter verblasst, verliert sie einen Teil ihrer Schutzmauer und lässt das Mädchen durchscheinen, das sie trotz all der Wut geblieben ist.“

Die Autorin Adriana Popescu ist schon lange keine Unbekannte mehr im Jugendbuchbereich. Ihre lebensnahen, ungeschönten und authentischen Geschichten berühren immer wieder aufs Neue. In zügigen Perspektivwechseln kommt neben Alex, Grete, Jannis und Leo auch Tommis Sicht auf die Dinge nicht zu kurz. Das Eintauchen in die Gedanken und Emotionen der Figuren ermöglicht es den Lesenden, einen Zugang zu den nach außen hart und unnahbar wirkenden Jugendlichen zu bekommen. Nach und nach werden die unüberwindbaren Mauern eingerissen und die zerbrechlichen Kinder und Heranwachsenden dahinter kommen zum Vorschein. Und das ist eigentlich auch der innerste Wunsch, der alle miteinander vereint: endlich gesehen und verstanden zu werden.

Während Ben und Yvonne die klassischen Sozialarbeiter sind, die bei allen Bemühungen aber doch die letzte Distanz nicht zu überbrücken vermögen, kann Tommi die Gefühle der vier nur zu gut verstehen. Denn er war selbst mal einer von ihnen - bis es in den Jugendknast ging. Sensibel und feinfühlig nähert sich die Autorin seinem jetzigen Ich an, das noch immer gebrochen erscheint, aber dennoch eine ungemeine Hoffnung versprüht. Tommi ist für Alex, Grete, Jannis und Leo der Game Changer bei diesem Boat-Trip, die Brücke zwischen den Lebensrealitäten.

Wenn aus Feinden Freunde werden

Alex, Grete, Jannis und Leo haben eines in ihrem Leben gelernt: Lasse niemals jemanden an dich heran. Verliere nicht dein Herz an eine andere Person und gehe am besten keine Freundschaften ein, denn du kannst nur enttäuscht werden. Es müssen sehr viele Beleidigungen ausgesprochen, körperliche Auseinandersetzungen geschlichtet werden und Wutausbrüche geschehen, bis, ja, bis nach und nach eine feine Linie der Verbundenheit zwischen den vier Jugendlichen entsteht. Sie alle lassen die Fassade, egal ob gewollt oder ungewollt, irgendwann fallen. Ihre Geschichten sind traurig, ergreifend und schockierend. Denn um gewalttätig oder süchtig zu werden, braucht es Gründe und diese sind nicht leicht zu ertragen. Desinteressierte Eltern, die andere Kinder vorziehen, ein Kindheitstrauma mit akuten Verlustängsten und immer wieder das vermittelte Gefühl, nicht genug zu sein.

Ein ergreifender Coming-of-Age-Roman, der einmal mehr zeigt, wie viele Kinder in zerrütteten Verhältnissen aufwachsen und aus diesen Traumata heraus eine Persönlichkeit entwickeln, die sie im Leben kaum Fuß fassen lässt. Aber ganz tief drin, hinter aller Härte und Aggressivität, wird dieses Kind immer zu finden sein und vielleicht auf Rettung hoffen. 

Fazit

Die Schicksale von Alex, Grete, Jannis und Leo stehen stellvertretend für so viele Jugendliche da draußen. Berührend und absolut lesenswert!