Eine mitreißende und berührende Geschichte über zwei Jugendliche am Rande der Gesellschaft
Fabian hat in seinem Kopf ganz viele Tonnen aus Blech, fein säuberlich beschriftet: Spotify-Playlists, Inhaltsstoffe von Lebensmitteln, Signaturen in der Bibliothek und noch einige mehr. Ideal läuft es, wenn sie einfach ruhig an ihrem Platz stehen bleiben. Doch nicht selten passiert das: Es scheppert in Fabians Kopf und der Inhalt einer Tonne möchte ans Tageslicht. Ein unaufhaltsamer Strom an Worten entlädt sich, kaum zu stoppen. Manchmal ist es aber auch sein Körper, der die Kontrolle übernimmt, Grimassen schneidet oder die Arme und Beine marionettenartig bewegt. Fabian hat das Tourette-Syndrom.
Der 17-Jährige leidet sehr unter seinen Tics, vor allem, weil er zusätzlich auch die Blicke der Leute ertragen muss. Alle scheinen hinter seinem Rücken über ihn zu reden, niemand nimmt Fabian ernst. Auch seine Eltern sind keine Stütze. Im Gegenteil: Seinem politisch engagierten Vater ist der eigene Sohn peinlich, Fabians Mutter ist zu sehr von ihrem Mann abhängig, als dass sie wirklich Partei ergreifen würde. Nur zu seiner verstorbenen Oma hatte Fabian einen Draht und fühlte sich irgendwie verstanden. Und dann, nach einer durchfeierten Nacht, trifft Fabian auf Mirco. Beziehungsweise Mircos Faust trifft auf Fabians Gesicht…
„Aber besser am Anfang die Fresse polieren und nachher Kumpel sein.“
Während Fabian auf den Lesenden von Anfang an sehr nahbar wirkt, muss sich Mirco diese Rolle hart erarbeiten. Kein Wunder, denn seine Fassade hat er sich mühselig aufgebaut. Der klischeehafte Macho, der „sein Mädchen“ immer und überall verteidigt, nicht nur mit Worten. So auch vor Fabian, der Sandra angeblich angemacht hätte. Schlechter könnte die erste Begegnung nicht laufen, doch nur ein paar Stunden später treffen Fabian und Mirco erneut aufeinander. Dieses Mal flüchten sie – gemeinsam. Beide brauchen sie eine Auszeit von ihrem Leben und obwohl sie ungleicher kaum sein könnten, starten sie eine Art Roadtrip ins Ungewisse.
Während Mirco mal wieder Stress mit Sandra hat, ist Fabian zutiefst erschüttert von seinem letzten Aufeinandertreffen mit seinen Eltern. Für Mirco ist Fabian erst einmal nur der „Spasti“, obwohl er das von Anfang nicht wirklich beleidigend meint. Er ist durchaus interessiert daran, mehr über das Tourette-Syndrom zu erfahren. Besonders einfühlsam ist er nicht dabei, aber hinter der Mauer seiner derben Sprache kommt zunehmend Mircos sensible Seite zum Vorschein. Denn auch er hat ein ganzes Bündel an Problemen zu tragen: Seine Mutter konnte sich nicht um ihn kümmern, einzig auf Ela, die im Rotlichtmilieu arbeitet, war Verlass. Von Kapitel zu Kapitel versteht man immer mehr, dass Mircos ablehnende Haltung seinen Ursprung in einer verlorenen Kindheit hat. Viel zu früh musste er lernen, sich selbst durchzuschlagen und dabei das Vertrauen nicht wahllos zu verschenken.
„Manchmal mussten sie raus, und ich wusste nie, wann, wie laut und wie lang der Wortmüll über meine Lippen quoll.“
Frank Maria Reifenbergs neuer Roman ist allein schon aufgrund des Covers ein echter Hingucker. Man kann die Wut förmlich spüren, die sich in der Geschichte gerade auf Seiten von Fabian immer mehr Bahn bricht. Aber nicht nur optisch überzeugt der Titel auf ganzer Linie: der Schreibstil ist wirklich grandios. Von Anfang bis Ende geben die bildhafte Sprache, all die Metaphern und Vergleiche einen einmaligen Einblick in das Leben mit dem Tourette-Syndrom. Man kann es förmlich mit spüren, wenn Fabian von einer Tic-Welle überrollt wird. Welch erdrückende Last er auf seinen Schultern spürt und wie sehr er unter der Ablehnung seines Vaters leidet.
Es gibt nicht viele Jugendbücher über das Leben mit Tourette oder, wie Fabian es sagt, „mit dem Franzosen“. Kaum jemandem wird bewusst sein, welch große Auswirkungen diese neuropsychiatrische Erkrankung auf den Alltag der Betroffenen hat. Für Fabian sind sie so gravierend, dass er nicht weiß, ob er damit weiterleben möchte. Mit Mirco an seiner Seite schafft er es jedoch, viele Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Ob die Entscheidungen, die er dann trifft, besonders klug sind, bleibt offen, aber zumindest geben sie Fabian ein gutes Gefühl.
Fazit
Ein in vielerlei Hinsicht beeindruckender Roman, der durch seine wortgewaltige Sprache glänzt und den Protagonisten Stimmen verleiht, die sonst viel zu selten gehört werden.
Frank Maria Reifenberg, Karibu
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