Romeo und Julia mit sehr tiefen Gräben
Früher als die Zukunft noch weit und glänzend vor Brooke lag, da hatte sie den großen Traum einmal als gefeierte Eiskunstläuferin von der Menge bejubelt über das Eis zu gleiten. Aber das war „Vorher“. Vorher nämlich, bevor ihr Bruder Jason zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt wurde, weil er den Mord an seinem besten Freund Calvin gestand. Seitdem ist in Brookes Leben vieles aus dem Tritt geraten: Ehemals beste Freunde grüßen sie nicht mehr auf der Straße, vom Traum des Eiskunstlaufens ist nur noch das Fahren der Eismaschine geblieben, womit sie ein bisschen Geld für die Familie dazu verdient und ein Großteil des Wochenendes geht für Knastbesuche drauf. Dazu kommt auch noch, dass es in ihrer Familie mehr und mehr hakt: Ihre Mutter hat nach der Verurteilung ihren Job verloren, ihre jüngere Schwester Laura spricht in erster Linie noch mit ihrem Nymphensittich und ihr Vater hat sich mehr und mehr in seine eigene sprachlose Welt zurückgezogen.
Langsam aber sicher gerät alles ins Rutschen. Unglücklicherweise begibt sich Brooke auf zusätzliches Glatteis, als sie Heath, Calvins jüngerem Bruder begegnet und feststellt, dass ihre beiden Familien im Schmerz über die jeweiligen Verluste ihrer Söhne doch einiges gemeinsam haben - und nicht nur ihre Familien...
Romeo und Julia vor einem tiefen, tiefen Graben
Abigail Johnson, die mit 18 Jahren einen schweren Autounfall erlitt und seitdem im Rollstuhl sitzt, erzählt in ihren Romanen regelmäßig über schwere Schicksale, die dennoch - genau wie es auch die Autorin erlebt hat - überwunden werden können. In diesem Buch trifft der/die Leserin auf Brooke und ihre Familie, die akzeptieren müssen, dass eines ihrer Mitglieder - der älteste Sohn, der geliebte große Bruder Jason - ein Mörder ist. Dennoch hat sich Brooke, die hier allein als Ich-Erzählerin auftritt, noch nicht richtig damit abgefunden. Zu vieles ist um die Tatnacht ungeklärt. Könnte es sein, dass Jason für jemand anderen den Kopf hinhält? Ist es möglich, dass es doch noch einen Entlastungszeugen gibt? Allein hier erzählt Johnson eine spannende Geschichte, die zeigt, wie lange eine Familie sich noch - möglicherweise - trügerischen Hoffnungen hingibt, ehe sie tatsächlich akzeptieren muss, dass einer von ihnen zu einer schrecklichen Tat fähig war.
Natürlich ist die Liebesgeschichte, die sich (und das ist kein Spoiler) zwischen Brooke und Heath entwickelt, noch unwahrscheinlicher. Da ist die Schwester des Mörders, der ein junges, hoffnungsvolles Leben einfach beendete und die aber genauso um ihren Bruder trauert. Nur dass sie das Gefühl haben muss, gar nicht trauern zu dürfen. Auf der anderen Seite ist da Heath, der seines Bruders beraubt wurde und ihn schrecklich vermisst. Er hat dagegen aber vielleicht auch das Gefühl, in diesem Schmerz langsam zu ersticken. Beide beginnen, sich in ihren Verlustgefühlen einander anzunähern. Ob so etwas im realen Leben möglich wäre? Ob nicht zu viel Hass, zu viel Wut jedes positive Gefühl ersticken würde? Ehrlich gesagt - ich weiß es nicht.
Die Liebe ist eine Himmelsmacht - oder doch nicht?
Dennoch muss es sicher nicht der Anspruch eines Romans sein, eine Liebesgeschichte realitätsnah zu erzählen. Heath und Brooke lernen sich erst einmal trotz aller Barrieren näher kennen und müssen ihre Romanze natürlich geheim halten. Brooke wird zusätzlich zwischen vielen Fronten aufgerieben: Da sind nach wie vor viele Ungereimtheiten aus der Nacht, die ihren Bruder seine Freiheit kostete, da sind die vielen Probleme in ihrer Familie, die immer noch versucht, Jasons Verurteilung auszublenden, da sind die ganzen Dinge, die sie ihrer besten Freundin verschweigt und nicht zuletzt ihr noch immer schwelender Wunsch, doch noch eine Karriere als Eiskunstläuferin zu starten. Es ist eine große Leistung der Autorin, alle diese Punkte gut erzählt in einem Roman zusammenzubringen.
Aber auch in diesem schön aufgemachten Buch gab es ein paar Kritikpunkte. So kann ich mir nicht vorstellen, dass eine angehende Eiskunstläuferin, die sich ernsthaft auf eine Prüfung vorbereitet, dieses ohne fachkundige Anleitung und mit einem Laien durchführen kann. Bei Baby und Johnny in Dirty Dancing mag das funktioniert haben, aber da wusste ja wenigstens Johnny was er tat. Ein großer Kritikpunkt war für mich auch, die Rolle, die die regelrecht „schicksalhafte Liebe“ in dem Roman einnimmt. So wird an der Figur von „Onkel Mike“ - der eigentlich kein Onkel, sondern ein alter Verehrer von Brookes Mutter ist - geschildert, wie unüberwindlich die erste große Liebe sein kann und ein weiteres Schicksal in diesem Buch springt auch auf diese These auf. Das ist aber tatsächlich einfach nicht wahr. Auch die großen, schmerzhaften, wunderbaren - aber unglücklichen - Lieben können überwunden werden. Wenn man ihnen Zeit zum Heilen gibt und vor allem aber auch will, dass sie heilen. Am Ende des Tages ist die Liebe NICHT eine Schicksalsmacht, der wir alle gnadenlos unterworfen sind.
Fazit
Even if I fall schildert bewegend und dennoch spannend die Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen, deren Leben wegen einer Tat durchgeschüttelt und aus dem Gleis geworfen wurde. Ob die tiefen Gräben im realen Leben zwischen ihnen tatsächlich überwunden werden könnten, das ist natürlich eine besondere Frage. Fraglich ist auch, ob am Ende tatsächlich vieles gut werden könnte. Aber es ist auch immer wieder schön, einen gut erzählten Roman mit ein paar märchenhaften Zügen zu lesen.

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