Elektrizität und Himmelsfische

  • dtv
  • Erschienen: Juli 2024
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übersetzt von Olga Radetzkaja und Henriette Reisner; Hardcover, 192 Seiten

ISBN: 9783423641197

Elektrizität und Himmelsfische
Elektrizität und Himmelsfische
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Theresa Mürmann
9101

Jugendbuch-Couch Rezension vonAug 2024

Eine einzigartige und bewegende Fluchtgeschichte

Eigentlich wollte die 14-jährige Marzia sich gerade um den Aufbau ihres neuen Bettes kümmern, als ein plötzlicher Raketenbeschuss sie und ihre Familie zum sofortigen Aufbruch zwingt. Die einzige Möglichkeit: das Auto ihres Opas. Gemeinsam mit ihren Großeltern, ihrer Mutter, ihrem Vater und ihrer kleinen Schwester Tonja lässt Marzia alles zurück. Ein Stau jagt den nächsten, emotionale Krisen strapazieren die Nerven und über allem hängt das Grau des Krieges. Ein Anker ist für Marzia die Begegnung mit einem Schriftsteller in einem Motel. Diesem überreicht sie ihre in Umschlägen gesammelten Tagebucheinträge. Erst, wenn sie sich nach ihrer Abreise eine Woche lang nicht bei ihm gemeldet hat, darf er den ersten Umschlag öffnen. So soll es dann auch kommen…

„Das riecht doch schon von Weitem nach Zuckerguss für die lieben Kinder, die an den strahlenden Sieg des Guten über das Böse glauben sollen. Sirup, den man in sich reinschlürft - und nachher tut es doppelt weh, wenn einem die Realität ins Gesicht schlägt …“

Dieses Buch ist keines, das man so nebenbei liest und danach zu all den anderen ins Regal stellt. Es ist eine Geschichte, die innehalten lässt und diese Momente für sich selbst stets einfordert. Anspruchsvoll, verdichtet und poetisch - die Geschichte von der Flucht einer ganzen Familie bewegt. Sie richtet sich zwar an Jugendliche, doch werden vor allem aufgrund des collagenartigen Schreibstils vermutlich eher Erwachsene zu diesem Titel greifen.

Besonders ist in jedem Fall das Autorenduo: Hinter dem Pseudonym Andrej Bulbenko verbirgt sich ein etablierter ukrainischer, Russisch schreibender Autor. Für Marta Kajdanowskaja, ebenfalls ein Pseudonym, ist es das literarische Debüt - sie war während des Schreibprozesses 15 Jahre alt. Sie beide sind durch ihre Fluchterfahrungen miteinander verbunden. Ihr gemeinsames Ziel ist es, auf die Nöte und Ängste der Menschen im Krieg sowie auf der Flucht aufmerksam zu machen.

Herausgerissen aus ihrem ganz normalen Alltag versucht Marzias Familie stets, das Ungezwungene zu bewahren, aber letztlich sind sie alle in großer Furcht davor, nicht doch als „nasser Fleck“ zu enden. Obwohl an keiner Stelle des Buches genannt wird, aus welchem Land sie flüchten, so ist eine Verbindung zum Ukrainekrieg doch sehr wahrscheinlich: Zeitlich ist man beispielsweise im Monat Februar verortet, in dem 2022 der russische Angriffskrieg auf die Ukraine begann. Der Text strotzt nur so vor Metaphern und Wortneuschöpfungen, die an etwas Bekanntes erinnern. So ist zum Beispiel das Ziel von Marzias Familie der umkämpfte „Ruppigon“, den es zu überqueren gilt. Wo genau dieser liegt, bleibt unklar. Irgendeine Grenze, bis zu der man kommen muss, um es in eine andere Welt zu schaffen. Der Name mag vermutlich nicht ohne Grund stark dem historisch bedeutenden „Rubikon“ ähneln.

„Hätten die nicht mal warten können mit ihrem Krach. Musste das unbedingt heute sein.“

Zu Marzias Familie zählen unter anderem ihr schwerhöriger Opa, der als Einziger Auto fahren kann, aber nicht selten eine falsche Abbiegung nimmt. Ihre Oma, die davon stets genervt ist und dauernd Angst hat, dass sich die Enkelkinder erkälten. Und ihre Eltern sowie die kleine Schwester Tonja, die so nervig ist, dass Marzia regelmäßig die Krise kriegt. Eine ganz normale Familie also - nur auf der Flucht vor der Dunkelheit des Krieges.

Dabei geraten die sechs immer wieder in skurrile, gar absurde Situationen. So sollen sie mitten im Stau die Statisten für eine gefakte Hochzeit mimen: Das Brautpaar hatte den im umkämpften Gebiet zurückgelassenen Eltern geschworen, dass sie es bis nach Brüssel schaffen, um dort wie geplant zu heiraten. Doch sie stecken fest und brauchen nun ein paar Französisch sprechende Belgier, deren Rolle Marzia und ihre Familie nur allzu gerne übernehmen. Beim Lesen dieser Textstellen kommt man nicht um ein Schmunzeln herum. Bevor dieses jedoch zum Lachen wird, bleibt es einem im Halse stecken. Denn auch Marzia wird immer wieder ins Hier und Jetzt zurückgeholt.

Die Begegnung mit dem Schriftsteller im Motel ist für Marzia unglaublich heilsam, da sie mit ihm über Dinge sprechen kann, die ihre Familie nur in Aufruhr versetzen würde. Was bleibt von einem selbst nach dem Tod? Warum gibt es überhaupt Krieg? Wie nehme ich meine Mitmenschen wahr und wie sehen sie mich? Wer bin ich? Es wäre nicht richtig zu behaupten, die Geschichte beim ersten Lesen vollends durchdrungen zu haben. Es bräuchte mehrere Anläufe und selbst dann blieben am Ende immer noch neue Momente der Erkenntnis und des Verstehens. Aber wer kann schon alles im Leben von Anfang an erfassen? Manches ist nicht zu begreifen.

Fazit

Für dieses Buch braucht man Zeit und Muße, denn es erzählt von der unbegreiflichen Not so vieler Menschen auf dieser Welt. Von dem unbedingten Wunsch nach Normalität und den so drängenden Fragen unseres Daseins.

Elektrizität und Himmelsfische

Andrej Bulbenko, Marta Kajdanowskaja, dtv

Elektrizität und Himmelsfische

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