Ein wahnsinnig vielschichtiger, wichtiger und berührender Jugendroman
Moud weiß nicht genau, wie er sich fühlen soll vor seiner ersten Reise von Los Angeles nach Teheran. Sein Großvater ist schwer krank und er wird ihn vermutlich das letzte Mal sehen. Gleichzeitig hat er als queerer 17jähriger Angst, denn Homosexualität wird im Iran unter Strafe gestellt. Vorsorglich löscht Moud daher sein gesamtes Social-Media-Leben. Für ihn fühlt es sich sogar ein bisschen befreiend an, was seinem Freund Shane sicherlich nicht gefallen dürfte. Denn es wäre nicht das erste Mal, dass Moud sich wegduckt, lieber schweigt, als offen zu sich und seiner Homosexualität zu stehen. Das denkt zumindest Shane. So sehr Moud seinen Freund liebt, so oft wünscht er sich weniger Grundsatzdebatten. Aber mit wem könnte er darüber reden?
Mit seinem Vater Saeed schon mal nicht. Doch was Moud nicht ahnt: Auch für Saeed ist die Reise in den Iran, wo er aufgewachsen ist, eine Zäsur. 1978 hat er seine Heimat während der Proteste gegen das Schah-Regime, an denen er beteiligt war, von heute auf morgen verlassen müssen. Dabei hat er nicht nur seine Wurzeln und Familie verloren… Während es für Saeed von Teheran nach Los Angeles ging, brach sein Vater Bobby 1939 alle Zelte in Amerika ab, um im Iran neu anzufangen. Dabei stand ihm eine großartige Hollywoodkarriere bevor. Eine Zukunft, in der er niemals er selbst hätte sein können.
„Es kommt mir vor, als wäre mein ganzes Leben ein unberührtes Malbuch gewesen, und endlich malt jemand alles für mich aus.“
Mit diesem Own-Voice-Roman nimmt uns der iranisch-amerikanische Autor, Drehbuchautor und Produzent Abdi Nazemian mit in eine Familiengeschichte, die sich über drei Generationen erstreckt. Die englische Originalausgabe wurde bereits mit dem Stonewall-Book-Award sowie dem Lambda-Literary-Award ausgezeichnet. Beide Preise würdigen herausragende Titel der LGBTQIA+-Literatur. Zu Recht, denn dieses Buch geht unter die Haut, berührt und lässt einen bisweilen sprachlos zurück.
Insbesondere für Moud ist der Teheran-Besuch wie eine Reise zu sich selbst. Plötzlich stellen sich ihm Fragen, die er zuvor verdrängt oder sich nicht zu stellen erlaubt hat. Durch seine Cousine Ava findet er schnell Anschluss. Sie macht ihn mit der dortigen queeren Community bekannt, welche Moud niemals vermutet hätte. Vor allem nicht, dass sein Baba ein Teil von ihr ist. Darüber hinaus lernt Moud auch seinen Vater Saeed von einer ganz anderen Seite kennen. Letzterer konnte mit seiner plötzlichen Flucht Ende der 1970er Jahre nie wirklich abschließen, da zu viele Fragen noch offengeblieben sind. Was ist zum Beispiel mit Shirin passiert, die er bei den Protesten kennengelernt hat? Und endlich, endlich können Vater und Sohn auch über Mouds verstorbene Mutter sprechen, die Saeed damals in Los Angeles durch eine schwere Sinnkrise begleitet hat. Denn die Homosexualität seiner Eltern hat Saeed und seine Glaubenssätze vollkommen aus der Bahn geworfen.
Im Wechsel taucht man beim Lesen immer wieder in die Perspektiven von Moud, Saeed und Bobby ein. Dabei wird mit Zeitsprüngen gearbeitet und nicht in der Rückschau erzählt. So fühlt man sich unmittelbar in Bobbys Jugend als aufstrebender Star am Hollywood-Himmel versetzt. Doch seine Queerness wäre niemals vom Filmstudio akzeptiert worden. Dabei träumte Bobby doch von einer Zukunft mit seinem Freund Vicente. Die Suche nach der eigenen Identität ist für Moud sowie seinen Baba „Bobby“ eng mit der eigenen Homosexualität verwoben. Während Moud diese im heutigen Los Angeles frei ausleben kann, sich von seinem Vater jedoch nicht angenommen und von seinem Freund Shane unter Druck gesetzt fühlt, bedeutete sie für seinen Großvater 1939 das Ende der Karriere, das Aufgeben seiner großen Liebe und ein zerrüttetes Verhältnis zu seiner Mutter.
Feinfühlig und sensibel werden die queeren Communities zu verschiedenen Zeiten, in unterschiedlichsten Kulturen und politischen Systemen porträtiert. Es ist schwer zu ertragen, wie sehr queere Menschen in der Vergangenheit und auch heute noch wegen ihrer sexuellen Orientierung Unterdrückung, Diskriminierung und Verfolgung erlebt haben und erleben. Viele mussten und müssen mit ihrem Leben bezahlen. Gleichzeitig pointiert das Buch ihren beständigen Mut und die Hoffnung auf Veränderung.
Während man gerade in den drei ersten Abschnitten der Protagonisten das Gefühl hat, dass die Entwicklungen sehr rasant verlaufen und Handlungsprozesse zu schnell erzählt werden, pendelt sich das Tempo danach genau richtig ein. Angenehm ist, dass die einzelnen Kapitel recht lang sind und es keinen ständigen Wechsel in den Perspektiven gibt. Vielmehr bleibt immer Zeit, um sich mit Moud, Saeed und Bobby wieder vertraut zu machen, sie in ihrer Geschichte zu begleiten und vor allem mitzufühlen.
Tatsächlich regt das Buch außerdem dazu an, sich während und nach der Lektüre eingehender mit der Geschichte des Iran, vor allem mit der Islamischen Revolution, sowie der aktuellen Situation auseinanderzusetzen. Dies trägt zu einem tieferen Verständnis von Gesamtzusammenhängen bei.
Das Schweigen in der Familie brechen
Ein zentraler Punkt, der von Nazemian wunderbar herausgearbeitet wurde, ist die tiefere Bedeutung von Familie und die Verantwortung, die jeder und jede Einzelne in dieser trägt. So ist Moud sehr enttäuscht von seinem stets schweigenden und abgeklärten Vater, der sich nie nach ihm erkundigt. Auch das Outing war mehr als schwierig, letztendlich verdrängt Saeed die Tatsache, dass sein Sohn schwul ist. Enttäuschung und vielleicht auch Wut sind natürlich berechtigt, aber Moud wird in Teheran immer mehr bewusst, dass er selbst seinen Vater auch nie nach dessen Leben, Vergangenheit und Wohlbefinden befragt hat. Wie berechtigt ist also seine eigene Kritik? Es ist ein Automatismus, den Eltern die Schuld an Entwicklungen und Problemen zu geben. Aber gleichzeitig kann man nur Unabhängigkeit erlangen, wenn man sich von ständigen Zuweisungen und Enttäuschungen abkoppelt, verzeiht und im besten Fall eine neue Ebene der Beziehung aufbaut. Das ist nicht immer möglich und manchmal ist Distanz der bessere Weg, aber Mouds Familie zeigt, wie jahrzehntelange Sprachlosigkeit zu Missverständnissen und tiefen Gräben geführt hat.
Fazit
Ein großartiges Jugendbuch, das so facettenreich ist wie seine Protagonisten. Wärmstens empfohlen!
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