Wenn man nicht aufhören kann, zu lesen...
Eigentlich dürfte das ja keine große Sache sein: Ein paar Tage nur die Wahrheit sagen und damit auch noch viel Geld verdienen! So ähnlich lautet das Motto eines großen Wettbewerbs bei dem hundert Kandidaten gesucht werden, die gegeneinander antreten. Der Gewinner erhält fünf Millionen Euro - wer aber doch bei einer Ausrede, Notlüge, einfachen Lüge oder einem gut gemeinten, unwahren Kompliment erwischt wird, der fliegt raus! Anschließend muss er oder sie noch eine besondere, persönliche Challenge bestehen, die jeden ganz individuell an seine/ihre Grenzen bringt. Damit das auch tatsächlich gut überwacht wird, wird jede/r TeilnehmerIn mit dem System „Scandor“ verdrahtet. Das ist ein Mechanismus, der unlösbar am Unterarm installiert wird und das System über jeden noch so kleinen Fehler informiert.
Das ist auch schon alles - eigentlich ganz einfach und das Geld ist leicht verdient. So denkt sich zumindest Tessa, die sich mit verschiedenen Jobs durchschlägt und für die dieser Gewinn der große Sprung in eine sorglose, unabhängige Zukunft bedeuten könnte. Philipp hat sich ebenfalls beworben, aber ehrlich gesagt, lag das eher daran, dass er seiner hübschen Kommilitonin Raffaela imponieren wollte. Beide stellen nach den ersten paar Tagen fest, dass es gar nicht mal so einfach ist, immer die Wahrheit zu sagen und dazu kommt noch das dumme Gefühl, dass die große Wahrheitssuche nicht das einzige Ziel des Auftraggebers zu sein scheint. Irgendetwas scheint hier ganz gewaltig nicht zu stimmen...
Wie oft lügen wir am Tag?
In den 70ern behauptet der Psychologe Jerald Jellison, jeder Mensch würde am Tag durchschnittlich zweihundert Mal lügen. Neue Studien haben gezeigt, dass diese Zahl weit überschätzt wurde. Heutzutage wird angenommen, dass wir in der Regel zwei bis 25mal am Tag die Unwahrheit sagen. Natürlich liegt zwischen zwei und 25 Lügen am Tag immer noch eine riesige Spanne, aber hier hängt es sicherlich auch davon ab, was als „Lüge“ bewertet wird und in welchem Metier der Beobachtete sein Geld verdient.
Ursula Poznanski hat sich in ihrem neuen Roman der Frage gewidmet, was passieren würde, sollten wir plötzlich gezwungen sein, immer nur die Wahrheit zu sagen. Sicher, so sollte man denken, für ein paar Tage kann das doch eigentlich nicht so schwer sein. Das meinen auch ihre Heldin Tessa und ihr Held Philipp und schnell stellen sie fest, dass es weiß Gott nicht einfach ist, im Spiel zu bleiben, wenn doch allein die einfachste, höfliche Lüge zum Ausscheiden führt. Poznanski hat hier noch einmal eine besondere Hürde geschaffen: Jede/r TeilnehmerIn muss vor der Teilnahme an dem „Spiel“ einen besonderen Wetteinsatz abgeben, was er im Falle des Ausscheidens abliefert. Das muss eine Sache sein, vor der er sich besonders fürchtet - sei es ein Bungee-Sprung oder eine Stunde im Haikäfig umgeben von Weißen Haien. Allein diese Wettkampfatmosphäre schafft eine besondere Spannung. Einerseits gilt es doch, um jeden Preis die Wahrheit zu sagen, andererseits geht es aber auch darum, die Attacken der Mitspieler abzuwehren. Denn im Spiel ist die Frage nach Wahrheit oder Lüge nicht nur dem Zufall überlassen - es gibt auch tatsächlich Kontrahenten, die aktiv den Kontakt suchen, um ihre Gegner aus dem Konzept zu bringen und zu einer Unwahrheit zu verlocken.
Die Autorin schickt ihre Helden und Heldinnen in Alltagssituationen und schnell sieht jede LeserIn, wo er oder sie gerne auch einmal die Wahrheit ein wenig beschönigt. „Nein, das Kleid ist nicht zu kurz!“, „Die Farbe steht dir“, „Ach, das ist doch nicht schlimm...“ - Lügen halten die Gesellschaft zusammen und nicht immer ist eine ehrliche, aber gnadenlose Wahrheit notwendig. Für mich waren es dann auch die besonderen Helden des Romans, die wissentlich logen, um ihrer Ehefrau, Freundin oder Familie nicht weh zu tun und damit bewusst auf eine Gewinnoption verzichteten.
Da steckt doch mehr dahinter?
Für meinen Geschmack hätte dieses Gewinnspiel allein schon die Geschichte tragen können, doch wird uns mit der Heldin Tessa schon bald klar, dass hinter dem reinen Spiel offensichtlich etwas anderes steckt. Scheinbar war die „zufällige“ Auswahl der Kandidaten doch gar nicht mal so zufällig“ und einige Schachzüge der Spielausrichter, der Kontrahenten und sogar der zuschauenden Freunde erschienen doch mehr als eigenartig. Hier wird tatsächlich noch ein weiterer Aspekt geschaffen, der für zusätzliche Spannung sorgt und es fast unmöglich macht, Scandor aus der Hand zu legen.
Dennoch ist es dieser zweite Handlungsstrang, der für mich dann dafür sorgte, dass die Autorin nicht die volle Punktzahl bekommen hat. Grundsätzlich war seine Grundidee nämlich durchaus nachvollziehbar - dennoch hält er meiner Meinung nach einer genaueren Betrachtung nicht stand. Ich konnte mich daher mit der Idee eines hochmodernen Lügendetektors durchaus anfreunden, nicht aber mit der Vorstellung einer Familie, die unbedingt und um jeden Preis ein besonderes Geheimnis lüften will. Ich stieß mich ehrlich gesagt auch an ein paar Fragen zur Logik. So hatten die Helden recht schnell erkannt, dass das System offensichtlich in der Lage war, sie abzuhören und noch detaillierter zu überwachen, dennoch schienen sie mit dieser Erkenntnis überhaupt kein Problem zu haben.
Fazit
Wollen wir immer die Wahrheit sagen? Oder gibt es Situationen, wo wir tatsächlich und auch außerhalb des Gerichtssaals die Wahrheit sagen müssen? Ursula Poznanski hat einen spannenden Roman über diese Grenze geschrieben und lässt jeden über die Liebe zur Wahrheit oder über achtlose Unwahrheiten vielleicht einmal anders denken.
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