Ein Jugendbuch, das schon fast ein bisschen zu tiefgründig ist
Mit dem plötzlichen Unfalltod ihrer Schwester Stevie ist für Shosh alles außer Kontrolle geraten: Der Alltag, das Familienleben, die Zukunft machen ohne ihre zweite Hälfte keinen Sinn. Selbst zur Theaterbühne fühlt Shosh keine Verbindung mehr. Allein der Alkohol gönnt ihrer Trauer ein paar Momente der Taubheit. Doch dann beginnt sie eine Melodie zu hören, ein Lied, das etwas in Shosh auslöst…
Auch Evan macht keine leichte Zeit durch: Sein Vater hat die Familie verlassen, was er nur schwer ertragen kann. Er fühlt sich verantwortlich für seine alleinerziehende Mutter und den siebenjährigen Bruder Will. Als könnte es nicht schlimmer laufen, kommt auch noch eine niederschmetternde Diagnose ins Haus geflogen: Seine Mutter hat Brustkrebs. Doch etwas gibt Evan Hoffnung. Ein Lied, das immer wieder den Weg zu ihm findet.
Dieses Buch quillt über vor Schmerz
Eine verstorbene Schwester, eine verlassene Familie, eine lebensgefährliche Krankheit, Ängste über Ängste, Suchterfahrungen und, und, und. Dieses Buch lebt quasi durch seinen Schmerz und legt den Finger immer wieder in klaffende Wunden. Shosh und Evan sind in ihrem jugendlichen Alter bereits so gezeichnet durchs Leben, das man sie am liebsten in den Arm nehmen würde.
Evan ist ein so wundervoller großer Bruder. Er liebt den kleinen Will über alles und gemeinsam schlägt ihr Herz für den Filmklassiker „E.T.“. Will liebt Reisen in die Fantasie, kann sich darin verlieren und der Welt entfliehen. Er ist besonders sensibel und hat feine Antennen für das, was um ihn herum geschieht. Leider ist er dadurch eher ein Einzelgänger in der Schule. Die gemeinsame „Budazeit“ einmal pro Woche, bei „E.T.“ und einem leckeren Essen, ist für Evan und Will durch nichts zu ersetzen.
Shosh hat mit ihrer ehemaligen Lehrerin Ms. Clark nur eine Person, der sie sich wirklich anvertrauen kann. In langen Telefonaten lassen sie Erinnerungen an Stevie aufleben. Gleichzeitig gibt Ms. Clark Shosh Halt, ermahnt sie, wenn es mit dem Alkohol zu viel wird und ermutigt sie zu eigenen Zukunftsplänen. Eine Stütze, die Shosh nur hier findet, denn die Eltern sind in ihrer eigenen Trauer um die älteste Tochter gefangen.
Füreinander bestimmt?
Die Liebesgeschichte zwischen Evan und Shosh ist nur schwer zu fassen: Sie kennen sich nur flüchtig über die Schule und haben bis zur Hälfte des Buches eigentlich nichts miteinander zu tun. Ihre einzige Verbindung, ohne dass sie es bereits voneinander wissen, ist die wiederkehrende Melodie. Dann kommt ziemlich plötzlich die alles entscheidende Begegnung, die Erkenntnis, dass sie beide dasselbe Lied hören, und ab hier ist es die ganz große Liebe. Keine Frage, der poetische Text beschreibt hochemotional die romantischen Gefühle - all das ist da. Nur leider fällt es schwer, das Gefühl dahinter wirklich zu spüren. Genreüblich wird abwechselnd aus der Sicht von Evan und Shosh erzählt. Aber interessanterweise unterscheiden sich die Erzählperspektiven. Evan fühlen wir uns durch die Ich-Form sehr viel näher, Shosh bleibt in der dritten Person immer etwas auf Distanz.
Die Sache mit dem Lied ist tatsächlich gar nicht so leicht zu schauen. Die eigentliche Handlung wird immer wieder von kurzen Kapiteln unterbrochen, die zumeist tragische Liebesgeschichten aus vergangenen und zukünftigen Zeiten erzählen. Sie alle stehen in Verbindung zu „Nachtvogel“, der Sängerin der besonderen Zeilen: Sølvi und Étienne in Paris 1832, Emily und Siobhan irgendwo im Nordatlantik 1885, Ewan und ein Mädchen auf den Shetlandinseln 1899, Shizuko und ein geheimnisvoller Junge in Tokio 1953, Everett und Siggy in New York 1988 und Eivin und Søl in Oslo 2109. Dazwischen fehlt ein Stück der Geschichte, das von Evan und Shosh nun ergänzt wird. Es geht um eine Liebe für die Ewigkeit, um eine tiefere Bestimmung füreinander.
Evan und Shosh, so unterschiedlich sie in gewisser Hinsicht auch sein mögen, scheinen durch Nachtvogels Melodie immer wieder zueinander geführt zu werden. Diese hochemotionale Ebene wird durch einen metaphorisch unglaublich schönen Text manifestiert, dennoch bleibt es in gewisser Hinsicht ein Konstrukt und schwer greifbar. Hätte man Evans und Shoshs Geschichte ohne das Lied-Element geschrieben, wäre sie vermutlich etwas zugänglicher gewesen. Genug Input wäre zumindest da gewesen.
Fazit
Eine Liebesgeschichte, die sehr viel will, aber eine Spur zu sehr auf Romantik und Bestimmung setzt. Weniger ist auch in diesem Fall manchmal mehr.

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