Little Brother

  • Rowohlt, 2008, Titel: 'Little Brother', Originalausgabe
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Tim König
9101

Jugendbuch-Couch Rezension vonAug 2010

an Aktualität kaum zu überbieten

Das meint Jugendbuch-Couch.de: "an Aktualität kaum zu überbieten"

Amerika: Nach dem zweiten Patriot Act ein Überwachungsstaat par excellence. Das Department of Homeland Security führt sich auf wie eine technokratisierte Gestapo. Reihenweise Verhaftungen "auffälliger" Bürger. Eingeschränkte Meinungsfreiheit, zensierte Schulbücher.
In diesem Amerika werden Marcus und seine drei besten Freunde kurz nach einem Anschlag gefangengenommen und, weil Marcus auf seinem Recht besteht, einen Anwalt holen zu dürfen, psychischer und physischer Folter ausgesetzt. Doch Marcus und wenigstens zwei seiner Freunde werden wieder freigelassen. Und Marcus wehrt sich. Auch, um seinen besten Freund Darryl, der wahrscheinlich immer noch festgehalten wird, zu retten.

Das Schöne ist, dass der erste, reale Patriot Act schon ausreichen würde, ein höchst erschreckendes Buch zu schreiben. Das Gefangenenlager in Guantànamo ist Realität. Der wahnwitzige war on terror ist Realität. George Bush jr. war Realität – Guantànamo ist geblieben.
Insofern ist die Fiktionalisierung nur zweitrangig. "Little Brother" ist an Aktualität kaum zu überbieten, sowohl was politische wie technologische Themen betrifft, beispielsweise die Sicherheit im Internet. Ein paar Punkte kann man Doctorow vorwerfen, doch sicherlich nicht, dass er in der Materie nicht bewandert ist. Das Forbes Magazin zählt ihn immerhin zu den 25 einflussreichsten Personen im Netz.

Im Buch breitet er sein Wissen fast enzyklopädisch aus, so oft bringt er neue und wahnsinnig interessante Themen ein. Manchmal ist es nicht ganz simpel zu verstehen, wenn er sich über Kryptographie und digitale Phänomene auslässt, doch der Punkt ist: Diese Informationen sind wichtig. Sie sind die Grundlagen für moderne Selbstbestimmung, also: Freiheit. Denn um Privatsphäre und Meinungs- und Pressefreiheit zu schützen und darüber Bescheid zu wissen, reicht es nicht, nur den "Spiegel" zu lesen. Die gedruckte Presse ist nicht mehr alles. Und in diesem Übergang zu neuen Medien liegt ein großer Wert des Romans: Er ist ein Tor zum digitalen Untergrund, zu einer kritischen Berichterstattung, die ,Tagesschau' und Zeitungen allein nicht mehr bieten können. Und dabei ist er ungeheuer spannend.

Ein kleiner Haken ist, dass gelegentlich unter all dem Anspruch die Jugendbuch-Attitüde etwas aufgesetzt wirkt. Marcus will cool sein, was eine schlechte Voraussetzung ist: Bislang scherten sich coole Typen, denen man in Büchern, zwielichtigen Wikipedia-Biographien und auf der Straße begegnet, nicht darum, ob sie cool sind oder nicht. Andererseits ist Marcus ein Teenager und wird erst nach ca. 70 Seiten gezwungen, erwachsen zu werden. So ist es immerhin plausibel, dass er sich am Anfang ein wenig pubertär verhält.

Schlimmer ist jedoch, dass gegen Ende die Geschichte ein wenig ruppig gerade gebogen wird. Hier verhält sich Marcus, der mittlerweile zum Symbol geworden ist, sehr stupide, entgegen aller mittlerweile gesammelten Erfahrungen und vertraut trotz einigen Widersprüchen wildfremden Menschen. Ärgerlich. Dennoch bleiben die Seiten von 50 bis 400 grandios. mit vielen einmaligen Szenen, wie einer online abgehaltenen Pressekonferenz, in der die Rebellen und Medienleute als verspielte Piraten auftreten müssen. Gleichzeitig zeichnet sich ab, wie Marcus erwachsen wird, seine erste Liebe findet und ihm seine parallel  angestoßene Revolution (fast) über den Kopf wächst.

FAZIT

"Little Brother" könnte ein für die erste Internetgeneration bedeutendes Buch werden. Vielleicht nicht wichtig in der Art von ,Dantons Tod' oder ,Die Leiden des jungen Werther', eher in Richtung George Orwell, Ray Bradbury oder Jack Kerouac. "Little Brother" gibt sich als Fiktion und erzählt uns nebenbei über ein modernes Lebensgefühl, digitale Sicherheit, Freiheit und das Recht, gegen Obrigkeiten zu rebellieren. 

Gerade Georg Büchner, der sowohl um die Notwendigkeit von Revolutionen wie ihren Risiken wusste, und der junge Goethe, der mit Werther einen der ersten Hypes um einen "coolen Typen" entfesselte, hätten ihren Spaß an "Little Brother" gehabt. Cory Doctorow und sein Roman hätten es jedenfalls redlich verdient.

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