Gewalt als Ausdruck sogenannter Liebe
Das meint Jugendbuch-Couch.de: "Gewalt als Ausdruck sogenannter Liebe"
Die Geschichte beginnt mit einem gemeinsamen Videoabend der Freundinnen Leonie Vanstraten und Nancy Drenth. Ein Unbekannter ruft Leonie an und fragt, ob sie ihn vermisst. Die Mädchen nehmen ihn nicht ernst. Der Stalker ruft Leonie wieder und wieder an, beschimpft sie als Schlampe, die mit jedem ins Bett steigt, und bedroht sie. Nancy rät Leonie, mit ihren Eltern zu sprechen und zur Polizei zu gehen. Leonie hört auf ihren Freund Jeroen de Graaf, der das Problem herunterspielt, sagt, sie solle den Anrufer nicht weiter beachten, der werde schon bald die Lust an dem Spiel verlieren. Jeder Versuch Leonies, sich dem Täter zu entziehen, so durch Ausschalten des Handys, ruft stärkere Reaktionen bei diesem hervor. Er schreibt ihr Drohbriefe, beschädigt ihr Fahrrad. Leonies Eltern schalten die Kriminalpolizei ein. Der Täter bedroht nun auch Leonies Freunde, macht ihrer kleinen Schwester Kara, die das Downsyndrom hat, Angst. Bald ist ein Verdächtiger gefunden, René Bloem, der bei Leonie abgeblitzt ist und sich vielleicht dafür rächen will.
Wie die anderen Romane der früheren Kriminalbeamtin Helen Vreeswijk beruht auch dieser auf Fallunterlagen, die sie für die Geschichte ausgewertet hat. Die Figuren sind allesamt nachvollziehbar. Leonie und Nancy sind zwei fünfzehnjährige Freundinnen, die in die gleiche Klasse gehen. Leonie sieht gut aus und zieht die Blicke der Jungen auf sich. Nancy ist eine sommersprossige Mollige und eine sehr gute Schülerin, die schon mal gezielt Fehler in ihren Klassenarbeiten macht, damit sie nicht auf das Gymnasium versetzt und von Leonie getrennt wird. Leonie ist seit drei Wochen mit dem Mädchenschwarm Jeroen zusammen. Nancy hat mit Jungen nichts zu tun. Die drei gehören zu einer Clique, deren weitere Mitglieder René, Jeroens Bruder Lex, Inga de Grip, Kris Noort und Ron Trongelen sind. Die Gruppe trifft sich abends im Club von Jos Geertsma, sie trinken und spielen Dart. Sie geben sich als Freunde und vertrauenswürdig. Das trifft aber längst nicht auf alle Mitglieder der Clique zu. Die Autorin zeigt, wie die Situation Leonies noch durch einige ihrer angeblichen Freunde verschlimmert wird, die sich durch Gefühle wie Neid und Eifersucht zu hässlichen Handlungen hinreißen lassen. Andere sind einfach nur neugierig, ohne Anteil am Schicksal Leonies zu nehmen. Aber dann ist da noch Nancy, Leonies einzige, dafür wirkliche Freundin. Dieser Beziehung können auch manche bösen Worte oder Handlungen von Leonie oder Nancy nichts anhaben.
Die Erzählperspektive wechselt häufiger von der einer dritten, das Geschehen beobachtenden und an der Handlung nicht beteiligten Person in die des Täters, dessen Gedanken die Leserinnen und Leser so erfahren. Die Autorin liefert einige mögliche Täter, manche von ihnen mit gut begründeten Verdachtsmomenten.
Den Stalker kann man übrigens als Leser durch kurze Hinweise im Text schon weit vor Ende des Buches zwar nicht eindeutig überführen, aber erraten. Schön zeigt Vreeswijk, wie die anfängliche Irritation des Opfers über Wut und Angst zur Panik führen kann. Leonie glaubt zu Beginn, alles im Griff zu haben. Ihre Umwelt reagiert vielfältig: sie soll die Anrufe nicht ernst nehmen; sie soll zur Polizei gehen; sie soll nicht zur Polizei gehen, weil die eh nichts tut; sogar Selbstjustiz wird diskutiert, gegen eine Person, von der man nicht einmal weiß, ob sie tatsächlich schuldig ist oder nur über die Deutung von Informationen zum Schuldigen gemacht wird.
Helen Vreeswijks dritter Jugendroman will nicht nur unterhalten. Die Autorin hat auch ein Anliegen. Sie hat eine Menge Informationen in den Text eingearbeitet, hat über Stalking ein Nachwort geschrieben, das man nicht zu früh lesen sollte: der Name des Täters wird darin preisgegeben. Zum Thema finden sich im Nachwort auch drei Internetadressen. Außerdem enthält das Buch die Angabe einer Homepage mit Lehrerhandreichung. "Im Visier des Stalkers" wird in den Niederlanden als Schullektüre eingesetzt und dürfte auch hierzulande eine interessante Alternative sein.
FAZIT
Der Roman hat ein paar Längen, insbesondere durch die Abwandlung gleicher Szenen, aber er ist überwiegend unterhaltsam und spannend erzählt. Die Autorin behandelt differenziert ein wichtiges gesellschaftliches Problem unserer Zeit und taucht dabei tief in die Gefühlswelt der Figuren ein.
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