Die 17jährige Anna steckt mitten in den Abiturvorbereitungen als ein neuer Schüler in die Klasse kommt. Abel Tannatek ist ein Außenseiter, mit dem sich kaum jemand abgibt. Er dealt auf dem Schulhof mit Drogen, ist ansonsten sehr schweigsam und in sich gekehrt. Trotzdem verliebt sich Anna in ihn, Warnungen ihrer Eltern und Freunde schlägt sie in den Wind und bald dreht sich ihr gesamtes Leben nur noch um Abel. Dabei scheint diese Liebe von Anfang an zum Scheitern verurteilt zu sein, denn bei Abel und Anna prallen Welten aufeinander.
Anna ist behütet aufgewachsen und es hat ihr weder an elterlicher Zuneigung noch in materieller Hinsicht an etwas gefehlt. Sie ist sehr zielstrebig und hat, was ihre Zukunft betrifft, sehr genaue Vorstellungen.
Abel dagegen hat Nestwärme nie kennengelernt. Aufgewachsen in einer trostlosen Plattenbausiedlung ist sein Leben geprägt von Entbehrungen und dem täglichen Kampf ums Überleben. Er ist ein Einzelgänger und ein sehr undurchsichtiger Charakter.
Trotzdem gelingt es Anna, Abels Distanziertheit zu durchbrechen und seine andere Seite zu entdecken: Den liebevollen Bruder, der nach dem Verschwinden der Mutter seine kleine Schwester Micha allein aufzieht, der schon sehr erwachsen wirkt und doch oftmals mit der Situation und der großen Verantwortung überfordert ist. Und dann gibt es da noch den Märchenerzähler Abel, der seiner kleinen Schwester wundervolle Märchen erzählt, denen sich auch Anna bald nicht mehr entziehen kann. Doch als Menschen aus Abels Umfeld ums Leben kommen, muss sich Anna fragen, ob in diesen Märchen nicht mehr Wahrheit steckt als ihr lieb ist.
Antonia Michaelis´ Erzählstil ist rhythmisch und die Sprache sehr poetisch. Die Autorin schreibt zum Großteil aus der Sicht von Anna, Abels Gefühlswelt erschließt sich hauptsächlich durch das Märchen, das er seiner kleinen Schwester erzählt. Als Leser folgt man dieser Geschichte mit gespannter Erwartung und beobachtet fasziniert das Geschehen, aber man ahnt von Anfang an auch, dass diese Geschichte nicht gut ausgehen kann. Sehr berührend geschrieben, ist dieser Roman ganz sicher keine leichte Liebesgeschichte, die man mal so nebenbei weg liest. Dieser Roman spricht sehr brisante Themen an, wie z. B. Vorurteile und Ausgrenzung, Prostitution und Missbrauch, körperliche Gewalt und Kriminalität und letztendlich auch Mord. Er wühlt auf, ist sehr emotional und wenn man das Buch beendet hat, lässt einen die Geschichte lange nicht los.
So schön die Geschichte von Abel und Anna auch erzählt ist, man kommt hier an Kritik leider nicht vorbei, denn die Botschaft, die dieses Buch vermittelt, ist äußerst bedenklich. Annas Naivität und Blauäugigkeit lässt einen manchmal nicht nur ungläubig den Kopf schütteln, sondern teilweise auch an ihrem Verstand zweifeln. Als sie - nicht ganz unschuldig - in eine sehr schlimme Situation gerät und auf sehr unschöne Weise mit einer von Abels dunklen Seiten konfrontiert wird, ist sie nicht fähig, aus dieser Situation die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Annas übertriebene Toleranz, ihre alles erduldende und verzeihende Liebe, ihre geringe Selbstachtung – hier geht die Autorin eindeutig zu weit, denn sie vermittelt ihren jungen Lesern/innen ein völlig verzerrtes Weltbild.
Was Abel betrifft, hat man aufgrund seiner schwierigen Lebensumstände sicher Verständnis für manche seiner Handlungen, jedoch entschuldigt eine schlimme Kindheit nicht alles und kriminelle Handlungen schon gar nicht. Der sehr laxe Umgang der Autorin mit Themen wie Drogenhandel und Kriminalität ist hier mehr als verantwortungslos.
FAZIT
Zweifellos eine emotionale und sehr bewegende Geschichte, die ihre Leser aufwühlt und noch lange nachhallt. Der Erzählstil der Autorin ist anspruchsvoll und sehr schön und auch die Idee, einen Teil der Erzählung in ein Märchen zu packen, ist gut durchdacht. Allerdings lässt die Umsetzung sehr zu wünschen übrig und die Botschaft, die dieses Buch vermittelt, ist mehr als bedenklich. Junge Leser/Innen sollten dieses Buch nicht unreflektiert lesen, denn weder Abel noch Anna sind Figuren, mit denen sich Jugendliche identifizieren sollten.
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