Die Worte der weißen Königin

  • Oetinger
  • Erschienen: Januar 2011
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  • Oetinger, 2011, Originalausgabe
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Der zehnjährige Lion liebt die stolzen Seeadler, wenn sie majestätisch ihre Kreise am Himmel ziehen. Lion ist ein Außenseiter, ein stiller und in sich gekehrter Junge. Er lebt mit seinem Vater in einer Gegend,  in der es kaum Arbeitsplätze gibt und aus der die Menschen scharenweise abwandern. Auch Lions Mutter verschwindet eines Tages und lässt Mann und Kind allein zurück, um ihr Glück woanders zu suchen. Lions Vater ist ein wortkarger Mann, das Leben der beiden ist ziemlich eintönig und ereignislos. Als jedoch der Vater eines Tages seinen Hilfsarbeiterjob in der nahegelegenen Werft verliert, ändert sich das Leben für Lion schlagartig. Sein Vater verfällt dem Alkohol und er beginnt, Lion brutal zu misshandeln. Als der Vater im Vollrausch dann einmal zu weit geht, flieht Lion in den Wald. Er will die "Weiße Königin" suchen, jene liebenswürdige alte Dame, die einst in der Kirche den Kindern wunderschöne Geschichten vorgelesen hat und deren Worte sich in Lions Innerstes eingebrannt haben. Die weiße Königin verkörpert für Lion alles, was er in seinem Leben vermisst: Wärme, Geborgenheit, Liebe, Zuwendung.

Das Leben im Wald ist geprägt von Hunger und Kälte. Doch Lion ist nicht allein. Die Seeadler beschützen ihn und versorgen ihn mit Nahrung. Und er trifft das Mädchen Olin, die ebenfalls im Wald wohnt und angeblich Lions ältere Schwester ist. Olin wird für Lion zum Mentor; doch nicht alles, was sie Lion beizubringen versucht, ist gut und Lion muss lernen zu unterscheiden, was richtig und was falsch ist. Und ist Olin wirklich seine Schwester?

Die Aufmachung des neuen Romans von Antonia Michaelis erinnert sehr stark an "Der Märchenerzähler", denn die Cover der beiden Bücher sind nahezu identisch. Doch das ist auch die einzige Gemeinsamkeit, die diese beiden Romane verbindet, denn vom Inhalt her könnten sie unterschiedlicher nicht sein. Wer hier eine ähnliche Geschichte wie "Der Märchenerzähler" erwartet, dürfte ziemlich enttäuscht werden.

Die Autorin widmet sich wieder sehr ernsten Themen, dieses Mal sind es Alkoholsucht und Kindesmisshandlung. Der Erzählstil ist strukturiert, die Sprache wechselt zwischen kindlich-schlicht und poetisch-anspruchsvoll. Die Geschichte macht betroffen, nachdenklich, sie erzeugt Wut, sie ist aber auch herzerwärmend, besonders dann, wenn sie die Freundschaft zwischen Lion und seinem Seeadler beschreibt. Die Grenzen zwischen Realität und Märchen sind fließend.

Doch wenn man bedenkt, dass sich dieses Buch an Leser ab 14 Jahren richtet, fragt man sich, ob 14jährige Teenager ein Buch über einen Zehnjährigen lesen möchten. Ziehen jugendliche Leser nicht eher Protagonisten vor, die ihrer eigenen Altersgruppe entsprechen? Und sind Lions Gedanken und Selbstreflexionen für einen Zehnjährigen manchmal nicht zu hoch gegriffen, um noch altersgerecht und damit glaubhaft zu sein?

Der große Nachteil dieses Romans ist,  dass die Autorin kaum etwas wirklich beim Namen nennt. Sie spielt mit Metaphern, sie verschlüsselt, deutet an und es braucht sehr aufmerksame und versierte Leser, um die zwischen den Zeilen versteckten Botschaften zu entschlüsseln. Dieses Buch ist ganz sicher keines, das sich einfach so weg liest. Vieles bleibt offen, Manches versandet komplett. Auch schafft es die Autorin nicht, den Spannungsbogen konstant hoch zu halten.  Die Geschichte fängt stark an, bricht in der Mitte jedoch komplett ein und wird ziemlich langatmig, bevor sie auf den letzten 60 Seiten nochmals richtig Fahrt aufnimmt, um in einem hochdramatischen, kitschigen und unrealistischen Ende zu gipfeln.

Die "Alle haben sich wieder lieb und alles ist verziehen und es ist ja alles gar nicht so schlimm"-Botschaft, die dieses Buch vermittelt, ist nicht nur dumm, sie ist schlichtweg fahrlässig. Lions tiefe seelische Verletzungen gehen komplett unter, sie werden im Laufe der Erzählung nur hier und da in surrealen Bildern angedeutet. Kein Kind hätte die massiven Misshandlungen so leicht weggesteckt, wie es Lion hier scheinbar tut. Der Autorin fehlt in dieser Hinsicht jegliches Einfühlungsvermögen.

FAZIT

Ein liebenswürdiger Protagonist, den man ins Herz schließt. Sprachliche Brillanz – und trotzdem jede Menge verschenktes Potential. Es hätte ein wirklich anspruchsvolles, ernst zu nehmendes Jugendbuch werden können, so bleibt es letztendlich nur eine schwammige unausgegorene Geschichte.

Die Worte der weißen Königin

Antonia Michaelis, Oetinger

Die Worte der weißen Königin

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