Liebe vor Widerstandstapete
Das meint Jugendbuch-Couch.de: "Liebe vor Widerstandstapete"
Die USA im Jahr 2060 sind ein Ort, an dem es kaum noch Bäume gibt. Die Menschen führen ihr Leben zunehmend online. Madeline Freeman, genannt Maddie, ist siebzehn Jahre und Tochter des Erfinders der Digital School, Kevin Freeman. Der wollte einen sicheren Ort für Kinder zum Lernen. Jeder Teenager geht zur Digital School, um anschließend das digitale College zu besuchen und später ein glückliches digitales Leben zu führen. Es gibt keine Amokläufe mehr an Schulen, alle Kinder und Jugendlichen erhalten die gleiche Schulbildung. Von ihrem Zimmer aus pflegt Maddie ihre sozialen Kontakte, ihre Freunde und andere Menschen sind per Klick erreichbar.
Die alte analoge Welt kennt Maddie nahezu nur aus Erzählungen ihrer Mutter. Maddie rebelliert seit zwei Jahren gegen ihren Vater und sein Schulsystem. Als Justin, einer der Kontakte, Maddie zur Teilnahme an einer Live-Lerngruppe überredet, gerät ihre Welt langsam aus den Fugen. Justin ist Mitglied im Widerstand gegen die Digital School und hat einen Plan, in dem Maddie die zentrale Rolle spielt. Maddie stellt nach kurzer Zeit ihr Leben in Frage und gerät in einen Konflikt, in dem sie sich entscheiden muss – mit weitreichenden Folgen.
Die beiden Helden
Die Charaktere sind allesamt klar umrissen. Justin und Maddie sind natürlich beide sehr attraktiv. Maddie wird von ihrem Vater unterdrückt, der damit nur beste Absichten verfolgt. Sie ist emotional verwirrt, rebelliert gegen ihren Vater und sucht gleichzeitig seine Zuneigung. Zwar hat sie Angst vor der Außenwelt, ist aber neugierig genug, sich sofort auf sie einzulassen. Nachdem sie sich in Justin verliebt hat, ist sie bereit, jedes Hindernis zu überwinden, das sie davon abhält, ihre digitale und sichere Welt zu verlassen. Plausibel wird ihr Verhalten, weil der grundlegende Konflikt - digitale gegen analoge Welt - bereits in Maddies Eltern angelegt ist. Während ihr Vater konsequenter Verfechter der Digitalisierungspolitik ist, ist ihre Mutter altmodische Hausfrau mit Bücherschrank und Vorbehalten gegen die Welt, die ihr Vater zu verwirklichen sucht.
Justin ist einer der herausragenden Vertreter im Widerstand gegen Kevin Freemans schöne neue Welt. Er ist geradeheraus, furchtlos und kämpft für seine Überzeugungen, die sich von denen Maddies längere Zeit unterscheiden. Hier hat Kacvinsky das Feld für die Konflikte zwischen Justin und Maddie geschaffen. Aber will Maddie tatsächlich das, was sie vorgibt zu wollen?
Die Welt oder die USA in fünfzig Jahren
Der Entwurf einer Dystopie ist sehr einfach gehalten. Die Welt besteht nur aus wenigen ausgearbeiteten Elementen. Das Leben scheint sich kaum von dem heute zu unterscheiden, gerade soweit, dass das Szenario der digitalen Romanwelt funktioniert. Alles fühlt sich zudem künstlich an. Die Natur wurde teilweise ersetzt durch Metall und Kunststoffe, die keine Allergien verursachen. Zwar gibt es noch Autos im Privatbesitz, aber der Personentransport erfolgt fast nur über öffentliche Verkehrsmittel. In welcher Weise findet die Güterproduktion in einer Welt statt, in der es so gut wie keine Bäume mehr gibt? Wie sieht es mit der Luftqualität aus?
Die Struktur der Gesellschaft bleibt sehr unscharf. Der Staat hat die Kontrolle in diesem Überwachungssystem, das vielleicht schon vollendet ist oder sich noch in der Ausformung befindet. So ist es seltsam einfach, wiederholt Jugendliche aus dem Polizeigewahrsam zu befreien. Verlässt kaum noch jemand das Haus, wie die Dystopie vermuten lässt? Lebensmittel und andere Artikel des täglichen Bedarfs werden online gekauft. Wie können dann die an heute erinnernden Innenstädte mit ihrem Angebot bestehen?
Ein paar kleinere Probleme
Der Roman wirft einige Fragen auf, die für sein Verständnis wichtig sind, aber nicht geklärt werden. Schon heute sind die USA ein Land mit sehr ungleicher gesellschaftlicher Entwicklung. Rund ein Viertel der Bevölkerung ist so arm, wie man es sonst nur aus Entwicklungsländern kennt. Gleiche Bildung für alle setzt aber für alle einen Zugang zu Computer und Internet voraus. Eine Bedingung, die bisher nicht erfüllt ist. Und die gesellschaftliche Situation in den USA verschlechtert sich laut Kacvinskys Roman in den nächsten fünfzig Jahren. Wieso also soll wer bereit sein, eine digitale Lerninfrastruktur für alle Kinder der USA bereitzustellen? Darüber hätte man gerne etwas mehr erfahren, zumal es um das gesellschaftspolitische Kernstück der Geschichte geht.
Weiter wäre zu klären gewesen, wie Kinder und Jugendliche dazu gebracht werden, ihr Leben online zu führen, während die Erwachsenen dies offenbar nicht machen. Scheinbar sind die USA ein totalitärer Staat geworden. So wird Maddie von ihrem Vater einmal angedroht, er wolle sie in ein Umerziehungslager schicken, in dem es eine Gehirnwäsche mit anschließendem Wohlfühleffekt gibt.
Die Liebesgeschichte zwischen Justin und Maddie ist banal und vorhersehbar. Justin erlöst Maddie aus ihrer Unterdrückung und Abgeschlossenheit vom Leben "draußen in der Welt". Gleichzeitig hat er Großes vor als Erlöser der US-Jugend vom Dasein in der digitalen Welt. Dazu benötigt er Maddie, die er nicht ohne Grund als Auftrag betrachtet. Maddie hilft beim Widerstand ein wenig aus, wenn sie gerade Zeit hat, an etwas anderes als den schönen Justin zu denken.
Deutet sich die Welt bereits heute an, die wir in Kacvinskys Dystopie erleben? Wird eine zunehmende Anzahl Menschen ein digitales Leben führen, in der Frühphase bestimmt durch Facebook, Twitter und andere heutige soziale Medien? Kommunizieren wir bereits in einem bedrohlich anmutenden Ausmaß über E-Mails und Handy? Alle Bausteine, die Kacvinsky für ihre Romanwelt benötigt, scheinen schon heute da zu sein.
Die Grundannahme des Romans ist, dass das Leben in der analogen Welt dem in der digitalen vollkommen überlegen ist. Sie ist notwendig, damit die Geschichte überhaupt funktioniert. Es gibt nur ein Entweder-oder. Das ist eine sehr schwache Annahme für eine Dystopie. Auch Jugendlichen, die lesen können, darf man durchaus zutrauen, Schattierungen zwischen hell und dunkel wahrzunehmen.
FAZIT
"Die Rebellion der Maddie Freeman" besteht aus einem kleinen Teil Kampf gegen das System und aus einem großen Teil Sich verlieben und Händchen halten. Als Leser kann man sich nicht wirklich sicher sein, ob Maddie Justin liebt oder das Gefühl, das er ihr ermöglicht, wenn er den Anschlussstecker an ihre digitale Welt abzieht. Vielleicht begehrt sie nur gegen die herrschenden Verhältnisse auf, weil Justin dies auch macht.
Maddie muss sich entscheiden: den Papa in ihrem Kopf ersetzt sie durch den Justin in ihrem Kopf. Es wäre schön gewesen, sie hätte dort Platz für sich geschaffen, so wie die Heldin in Sara Grants "Neva".
Im nächsten Jahr erscheinen zwei neue Romane von Kacvinsky, "First Comes Love" und die Fortsetzung der Abenteuer Maddie Freemans: "Middle Ground".
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