Leben in der Welt der Geister
Das meint Jugendbuch-Couch.de: "Leben in der Welt der Geister"
Jude Finney unterscheidet sich auf den ersten Blick nicht von seinen Altersgenossen. Er geht in London in die Abschlussklasse seiner Schule, macht nebenher mit anderen Musik und ist von den Lehrern, wie auch von seinem alleinerziehenden Vater, genervt. Um zu chillen, trifft er sich mit Freunden – und genau da beginnt es merkwürdig zu werden. Denn Jude geht nicht etwa ins Kino oder in die Disco, auch der nächste Starbucks oder McDonalds sind vor ihm sicher. Nein, er feiert auf dem Friedhof!
Nun könnte man annehmen, dass der junge Mann eben ein wenig arg Gothic-angehaucht wäre, wenn es sich bei seinen Freunden nicht um die Geister der dort begrabenen Menschen handeln würde.
Ein klarer Fall von Drogenmissbrauch werden Sie jetzt denken, der hat zu viele der bunten Pillen eingeworfen, zu viel merkwürdiges Kraut geraucht oder weißes Pulver geschnupft. Dem ist aber nicht so: Judes beste Freunde sind die Geister Verstorbener, mit denen er zusammen auf dem Friedhof wilde Parties feiert. Denn Jude Finney hat von seiner Mutter die Gabe geerbt, mit Geistern zu reden.
Eines Tages taucht der Geist eines Mädchen auf, das noch nicht gänzlich in die Welt der Verblichenen Eingang fand. Ihre Haut leuchtet noch und fühlt sich warm an. Doch wenn sie lebt, wieso ist ihr Geist dann nicht bei ihrem Körper? Was nur ist ihr zugestoßen?
Dass sie sich weder an ihren Namen noch an ihre Vergangenheit erinnert, dass ihr Körper von gesichtslosen Männern verschleppt wurde, lässt Schlimmes vermuten. Um Story, wie die Geister das Mädchen taufen, zu retten, muss Jude den sterbenden Körper des Mädchens finden. Mit Unterstützung der Geister und Story selbst, macht er sich auf die Suche. Dass ihn nicht nur die gesichtslosen Männer, sondern auch Wesen, die nur aus den Augenwinkeln zu entdecken sind, jagen, dass ganze Friedhöfe ihre vergeistigten Bewohner verlieren, macht deutlich, dass etwas Böses passiert, etwas, das die lebenden Menschen leer zurück lässt und um jeden Preis aufgehalten werden muss …
Seit Christoph Marzi mit seinen Romanen bei Heyne debütierte, meldete sich eine neue, eine eigene Stimme zu Wort. Ähnlich wie seine Kollegen Kai Meyer und Walter Moers – und ich bin mir bewusst, dass ich mit diesen Vergleichen die Messlatte sehr hoch lege – hat er sich als ein Autor etabliert, der abseits der ausgetretenen Pfade in einem ganz eigenen, märchenhaften Stil und einer wunderbaren Sprache seine Leser zu verzaubern weiß.
Christoph Marzis Bücher sind immer ein wenig anders, als die seiner Kollegen. Statt wilde Verfolgungsjagden und harte Action unterhält er lieber mit leisen, fast märchenhaften Tönen, ohne dass er dabei die Dramatik vergisst.
Einmal mehr legt er dabei seiner Lieblingsstadt London literarische Referenz ab. Und wie üblich bewegt er sich weit außerhalb der ausgetretenen Pfade.
Geschickt stellt er zwei jugendliche Erzähler in den Mittelpunkt seiner Handlung. Jude ist als Außenseiter ein Junge, der zwar nicht ausgegrenzt wird, sich aber schlicht auch nicht um Anerkennung Gleichaltriger kümmert. Gemeinsame Unternehmungen, Cliquenbildung und das Anbiedern an die Gruppe sind ihm einfach nicht wichtig. Stattdessen sucht er, ein wenig haltlos, seinen eigenen Weg. Diese Einstellung resultiert nicht zuletzt davon, dass er sich seinem Vater entfremdet hat, dass dieser ihn über seine Mutter im Unklaren lässt.
Wo kommt er her? Wo sind seine Wurzeln? Das sind Fragen, die ihn umtreiben, ohne dass er darauf eine Antwort findet.
Über Story dagegen erfährt der Leser wenig – zu wenig. Zwar hat sie das Handicap, dass sie sich als Halbgeist nicht an ihr Leben erinnern kann, doch auch auf der Suche nach ihrem entführten Körper bleibt sie als Charakter zu unbestimmt. Das ist gerade bei Marzi, der seine Personen sonst immer detailreich ausgestaltet und sie lebensecht zeichnet, ungewöhnlich, ja enttäuschend.
Dafür wuchert er vorliegend mit einem anderen Pfund. Seine phantastischen Wesen – seien es die Männer ohne Gesicht, die belebten Statuen oder die Dinge, die nur aus dem Augenwinkel zu erblicken sind, und nicht zuletzt die liebevoll beschrieben Geister auf den Friedhöfen - prägen dieses Buch. Hier kommt die ganze Einbildungskraft Marzis zum Tragen. Hier, auf den verschiedenen, über London verteilten Ruhestätten Verstorbener, läuft er zu großer Form auf. Das spricht unterschwellige Ängste im Leser an, lässt ein wohliges Schauern über den Rücken wandern, zeugt von Phantasie und Einfühlungsvermögen.
Auch wenn ich mir insbesondere bei der Zeichnung der Figuren ein wenig mehr Tiefe, besonders was Story anbelangt, gewünscht hätte, beweist Marzi auch vorliegend, dass er auf hohem Niveau ohne plakative Gewaltdarstellungen fesselnd zu unterhalten weiß, und besticht einmal mehr durch seine sehr bewusst eingesetzte, angenehm flüssig zu lesende Sprache.
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