Trauern heißt nicht, das Leben verleugnen
Das meint Jugendbuch-Couch.de: "Trauern heißt nicht, das Leben verleugnen"
[Jugendbuch des Monats - Dezember 2011]
Ingrid hat sich das Leben genommen. Einfach so. Ohne Vorwarnung, ohne Abschiedsbrief. Ihre beste Freundin Caitlin hat das Gefühl, als habe man ihr die Seele geraubt. Sie kann nicht verstehen, was passiert ist. Von brüllender Trauer umklammert, wendet sich Caitlin vom Leben ab und zieht sich von allem – und von allen – zurück. Weder ihren Eltern noch ihren Mitschülern gelingt es, sie aus ihrer Isolation heraus zu holen. Da taucht Dylan an der Schule auf. Sie ignoriert Caitlins abwehrende Haltung und zum ersten Mal dringt jemand zu Caitlin durch – bis diese das Gefühl bekommt, mit der neuen Freundschaft Ingrid zu verraten und sich wieder in sich zurückzieht. Doch da stößt Caitlin auf Ingrids Tagebuch, das unter ihrem Bett versteckt ist. Sie beginnt, sich mit den Gedanken ihrer toten Freundin auseinander zu setzen. Caitlin muss sich einer ebenso verletzenden wie verstörenden Wahrheit stellen. Und sie muss erkennen, wie wenig sie über Ingrid gewusst hatte.
Verstörend eindringlich schildert Nina Lacour die Gedankenwelt einer jungen Frau, die zwischen Unverstehen und Schulgefühlen versinkt und keine Lebensperspektive mehr sieht. Die Leser kommen der verzweifelten Caitlin sehr nahe. Denn die Autorin findet vom ersten Moment an die richtigen Worte, um sichtbar zu machen, in welcher Situation Caitlin steckt. Um mit ihrer Trauer umgehen zu können, verweigert Caitlin das Leben. Sie zieht sich nicht nur aus dem Freundeskreis zurück, sondern blockt auch sämtliche Bemühungen ihrer Eltern ab, ihr zu helfen. Einfach weiter zu leben wäre ein Verrat an Ingrid, ist Caitlin überzeugt. Eine Überzeugung, die so geschickt transportiert wird, dass diese Gedankengänge unvermittelt im Kopf des Lesers auftauchen. Nina Lacour zeigt eine enorme mentale Stärke, in dem sie sich mit dem sensiblen Thema auf eine Weise auseinander setzt, welche die Wirklichkeit auch beim Leser zu verschieben vermag. So wird nachvollziehbar, weshalb sich Caitlin dem Leben verweigert und immer deutlicher auch, weshalb sie sich gegenüber Ingrid schuldig fühlt.
Obwohl Caitlin klar im Zentrum steht, zieht Nina Lacour immer größere Kreise und macht sichtbar, mit welchen Gefühlen die anderen Beteiligten zu kämpfen haben. Da ist beispielsweise Jayson, der in Ingrid verliebt war, aber nie den Mut aufbrachte, sich ihr zu offenbaren, womit er nur schlecht klar kommt. Oder Taylor: Er möchte Caitlin zeigen, dass sie ihn interessiert, fürchtet sich aber gleichzeitig davor, mit der verletzten Seele des Mädchens falsch umzuspringen. Überfordert mit der Situation ist auch die Kunstlehrerin, deren seltsames Verhalten Caitlin immer tiefer in die Isolation treibt. Jeder für sich sucht nach Antworten, ohne dass er die Fragestellung auch wirklich zulassen würde. Und so fügen sich die Beteiligten gegenseitig immer wieder Verletzungen zu, die verhindern, dass die Trauer um Ingrid bewältigt werden kann.
Sehr schön gelöst hat Nina Lacour die Charakterisierung von Ingrid selber. Sie lässt sie durch ein in Briefform geführtes Tagebuch lebendig werden und zeichnet das Bild einer psychisch instabilen jungen Frau, die sich selber verletzt, um sich spüren zu können. Ohne den Mahnfinger zu heben plädiert Nina Lacour für ein genaueres Hinsehen. Gleichzeitig teilt sie die Verantwortung für ihr Handeln Ingrid selber zu – und spricht damit jene von Schuld frei, die sich selber die Schuld daran geben, dass Ingrid sich aus dem Leben stehlen konnte. Es ist dem Feingefühl der Autorin zu verdanken, dass das Thema Suizid zu keinem einzigen Zeitpunkt voyeuristisch oder moralisierend wirkt.
FAZIT
Nina Lacour legt ein hochsensibles und wunderbar konzipiertes Buch vor, das mit einem brisanten Thema umzugehen weiss, durch eine eingängige Sprache besticht und lange in den Köpfen der Leserinnen und Leser nachwirken wird. Sie legt aber auch ein Buch vor, das trotz allem Hoffnung verbreitet und daran erinnert, dass Trauern nicht heißt, das Leben zu verleugnen.
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