Tagebuch einer Traumabewältigung
Das meint Jugendbuch-Couch.de: "Tagebuch einer Traumabewältigung"
Sophie vermisst ihre Schwester Emily, kann darüber jedoch mit niemandem sprechen. Deshalb schreibt sie ihren Alltag, ihre Gedanken und ihre Gefühle in ein Tagebuch. Am liebsten möchte sie einfach nur vergessen, was geschehen ist. Ihr ganzes Leben hat sich verändert und kommt ihr vor, als sei es nicht mehr ihres. Sie hat kein Interesse mehr an oberflächlicher Freizeitgestaltung, daran, einfach nur in den Tag hinein zu leben. Ihr seelisches Trauma verursacht körperliche Symptome, sie schwitzt, friert, bekommt Schwindelanfälle. Sophie ist einsam, sie distanziert sich von ihrer besten Freundin Abigail und wird Ihrer Mutter zunehmend fremd. Ihre Freunde halten sie seit dem Erlebnis für nicht ganz normal, bemühen sich nicht einmal, sie zu verstehen. Langsam wird sie bei ihnen unbeliebt. Als Sophie die neue Schülerin Rosa-Leigh kennen lernt, entwickelt sich eine neue, eine andere Art von Freundschaft. Rosa-Leigh ist weniger oberflächlich, lässt sich auf Sophie ein und hilft ihr, sich mit ihrem Trauma auseinanderzusetzen. Doch zuvor muss sie erst einmal herausfinden, was Sophie widerfahren ist.
Es beginnt mit einem Verlust
Sophie vermisst ihre Schwester Emily, dies erfahren wir schon früh. Der Grund dafür wird jedoch erst gegen Ende des Buches genannt. Sophies Tagebuch führt ihr und uns deutlich vor Augen, wie ein Mensch sich langsam in der Trauer aufzulösen beginnt und die Welt sich dennoch weiterdreht. Diese an sich banale Erfahrung wirkt sehr stark, wenn man selbst betroffen ist.
Wird die Welt für den trauernden Menschen unwichtig, oder der trauernde Mensch für die Welt?
Wie so oft sind es die kleinen Dinge, die im Angesicht monströser Erfahrungen und Erkenntnisse scheinbar fließend in der Bedeutungsskala ganz nach oben gelangen. Wie oft lesen wir, dass ein Mensch oberflächlich und auf materielle Dinge ausgerichtet sein Leben durcheilt, und dann eine einschneidende Erfahrung macht, die seine Weltwahrnehmung dramatisch verändert, obwohl die Welt die gleiche bleibt.
Ähnlich ist es mit diesem Buch. Das große Ganze erkennen wir zwar erst am Ende, aber zugleich sehen wir dabei, dass die angeblichen Nebensächlichkeiten oft schon Aufschluss in diese Richtung geben.
Die Geschichte tröpfelt so vor sich hin
Da der Text offensichtlich aus Tagebucheinträgen besteht, mag es manche Leserinnen irritieren, dass er zusätzlich mit Kapitelangaben und Kapitelüberschriften versehen ist. Sophies Tagebuch ist eine Mischung aus sauberen und unsauberen Sätzen, aus teilweise grammatisch anspruchsvollen Konstruktionen, die die eingestreuten Elemente von Jugendsprache etwas bemüht aussehen lassen – auch im Original. Es gibt viele Wiederholungen, so bei den Erinnerungen. Bisweilen ist es schmerzhaft, zu lesen, wie ein Mensch das Leben verlernen kann.
So traurig die Geschichte ist, sollte man nicht darüber hinweg emotionalisieren, dass sie insgesamt doch recht oberflächlich erzählt ist und vor sich hin dümpelt.
Wer ein wenig mehr erwartet als Sätze, die einem Tränen der Trauer und der Betroffenheit in die Augen treiben sollen, der wird bald enttäuscht sein. Ein wenig seltsam ist, dass Kuipers sich nicht auf die mögliche Stärke ihrer Hauptgeschichte verlassen hat, sondern noch jede Menge Nebenstränge und -probleme eingebaut hat, wie Alkoholismus, Bulimie, Fremdgehen, Krankheit, so dass es zwar ziemlich dick kommt, aber ohne Tiefe.
Manchmal auch erinnert sie daran, wie das Leben zum Klischee werden kann. Der heiße Dan ist ein Junge, mit dem, salopp ausgedrückt, jede ins Bett steigt und sich anschließend darüber aufregt, dass er mit jeder ins Bett steigt.
Zwar ist Sophie die Oberflächlichkeit in ihrem Umfeld zuwider, aber bisweilen gefällt sie sich doch sehr in ihrer eigenen Oberflächlichkeit. Auch Abigail hat ernsthafte Probleme. Sophie und ihre Mutter leiden unter dem gleichen Problem. Aber die Mutter versucht wenigstens, sich wieder selbst zu stabilisieren und sich um Sophie zu kümmern – was diese zu teils unschönen und aggressiven Reaktionen veranlasst. Hier zeigt sich das Klischee vom armen unfähigen Kind und den Eltern, die aufgrund ihres Erwachsenenstatus dem Leben viel besser gewachsen sein müssen - eine recht naive Sicht der Autorin.
FAZIT
In zumeist knapper und emotionaler Prosa erzählt Alice Kuipers vom Verlust, der Bewältigung eines Traumas, von einem Mädchen, zu dem man kaum Nähe entwickelt. Die Tatsache, dass die Hintergründe selbst aus dramaturgischen Gründen für den Schluss der Erzählung aufgehoben werden, erscheint völlig schräg, auch, wenn man berücksichtigt, dass Sophie viel zu verdrängen sucht. Da sie sich aber mit Hilfe ihrer neuen Freundin bald schon dem Trauma stellt, mag die Frage erlaubt sein, warum ihr Tagebuch sich so geheimnisvoll gibt.
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