Unterland

  • Ravensburger, 2012, Originalausgabe
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Es ist der 18. April 1947, als die kleine Insel in der Nordsee für alle Zeit von den Royal Airforce im Meer versenkt werden soll. Die zwölfjährige Alice steht am Festland und schaut beklommen zu den berühmten roten Felsen. Von dieser kleinen, beschaulichen Insel wurde sie vor etwas mehr als einem Jahr mit ihrer Familie nach Hamburg evakuiert. Sie und alle Helgoländer hoffen - bis zuletzt - eines Tages zu ihrer Insel zurückkehren zu können ...

Alice Sievers, ihr dreizehnjähriger Bruder Henry, ihre Großmutter, die sie liebevoll "Ooti" nennt, und ihre Mutter ("Mem") werden in Hamburg im Haus von Frau Kindler aufgenommen. Der Vater ist noch immer in Kriegsgefangenschaft und muss auf einem belgischen Bauernhof Zwangsarbeit verrichten. Alice weiß: "Wir hatten halb Europa kaputt geschlagen, deshalb mussten unsere Väter zuerst die anderen Länder aufräumen, bevor – in ein paar Jahren vielleicht – auch Deutschland an die Reihe kam." Familie Sievers teilt sich mittlerweile mit zwei weiteren Familien das Haus von Frau Kindler, die immer ungnädiger mit ihren "Untermietern" umgeht. Als eines Tages eine Frau mit ihrem Sohn das letzte freie Zimmer beansprucht, lässt Frau Kindler die beiden zunächst im Regen stehen, bis die energische und elegante Frau sich selbst Zutritt verschafft. Und so lernt Alice Wim Wollank kennen, der eigentlich ein guter Freund für ihren Bruder Henry hätte werden sollte. Doch es ist Alice, die sofort Feuer und Flamme für den klugen und überaus selbständigen Jungen ist.

Den Winter überleben

Das Leben in der Hausgemeinschaft ist nicht einfach. Es gibt feste Zeiten, in denen jede Familie die Küche benutzen darf und es wird genau darauf geachtet, dass kein Essen liegen gelassen wird, um eventuelle "Missverständnisse" zu vermeiden. Neben der beengten Wohnsituation und den Spannungen im Haus, ist es vor allem der Hunger und die Kälte, die den Menschen das Leben beinahe unerträglich machen. Die Lebensmittelkarten reichen nicht zum Überleben, sollte man überhaupt etwas in den Geschäften bekommen. Doch der Handel auf dem Schwarzmarkt ist strengstens verboten.

Nora Wollank, die Mutter von Wim, verlässt sich in dieser Zeit ganz auf ihren Sohn - er besucht die Schule an keinem Tag. Wim ist klug und überaus geschäftstüchtig. Er organisiert,  beschafft und "verhökert" so manches, so dass er zu einem gewissen Wohlstand gelangt. Langsam scheint es auch für Alice wieder bergauf zu gehen. In der Schule gibt es jeden Mittag eine Schulspeisung und mit Wim kann Alice gute Geschäfte auf dem Schwarzmarkt abwickeln. Auch ihrem Bruder Henry gelingt es, einen Beitrag zu leisten. Er freundet sich mit englischen Soldaten an – eigentlich eine sehr heikle Sache, denn die Soldaten begegneten den ausgehungerten Kindern zunächst mit befohlener Ablehnung. "Mem" bekommt schließlich eine Stelle im Haushalt eines englischen Offiziers und kann die anfallenden Essensreste so in der Mülltonne deponieren, dass die Familie wenigstens abends eine Mahlzeit hat. Dennoch, es ist verboten, dass Deutsche sich aus den Mülltonnen der Alliierten die essbaren Reste herausfischen.

Den britischen Siegern fällt es schwer, mit einem hungernden Feind, der so viel Schuld auf sich geladen hat,  umzugehen. Es ist Wim, der auf dem Schwarzmarkt offen ausspricht, was Alice auf beklommene Weise spürt: Die Welt wird die Deutschen nie wieder respektieren.

In Rückblenden erzählt Alice auch von den Schicksalen der anderen Hausbewohner. Und immer wieder kommt zwischen all den erdrückenden Geheimnissen und Erinnerungen, die die Menschen um sie herum haben, auch Alices´ und Henry´s dunkles Vorhaben an die Oberfläche. Sie wollen den "Verräter" von Helgoland stellen und ihn – ja, was?

Alice ist schon lange nicht mehr wohl bei der Sache. Es ist vor allem Henry, der sich in die vollkommen fixe Idee verrennt, am "Verräter" Rache zu nehmen. Da er den Verlust seiner Heimat nicht erträgt, muss er einen Schuldigen finden – und findet ihn auch.

Neben dem ganzen Wahnsinn zwischen Willkür und Überleben hat Alice auch ganz eigene Probleme: Ihre erste Verliebtheit zu Wim und ihre Scham über ihr amputiertes Bein, kratzen schwer an ihrem Selbstbewusstsein. Für Alice ist es allein ihr Bein, ihre Krücken, die sie so verletzlich machen. Denn sonst ist sie sehr stark – so stark, dass sich sogar den ungeschriebenen Gesetzen des Schwarzmarkts anpasst. Dabei verliert sie jedoch nie ihre Menschlichkeit. Sie lernt, immer wachsam zu sein, Ungewöhnliches sofort zu erahnen und im rechten Augenblick den Rückzug anzutreten. Alice ist erst zwölf Jahre alt.

Zu jung, um mit dem düsteren Geheimnis um Wims Familie wirklich umgehen zu können. Sie spricht zu offen aus, was sie nicht versteht. Schließt die falschen Schlüsse und riskiert dabei, Wim für immer zu verlieren.

Eine Spezialistin

Anne C. Voorhoeve, die im Jahr 1963 – also erst knapp 20 Jahre nach Kriegsende – geboren wurde, gilt heute als Spezialistin für historische Themen der Gegenwart. Mit ihren zum Teil ausgezeichneten Büchern wie "Einundzwanzigster Juli", "Lilly unter den Linden" und "Liverpool Street" greift sie junge Schicksale im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit auf.

Am 1. März 1952, also vor genau 60 Jahren, wurde die Wiederbesiedlung Helgolands wieder möglich. Ein wahres Happy End, denn die Helgoländer blieben allen Widerständen zum Trotz in Kontakt und fuhren unbeirrt fort, für ihre Heimat zu kämpfen. Kein Geringerer als James Krüss, der auch im Roman auftritt, hat sich ebenfalls durch das regelmäßig erscheinende "Mittelungsblatt für den Hallunner Moats" für den Zusammenhalt und damit für die Wiederbesiedlung eingesetzt. Bei ihrer Recherche zu "Unterland" wurde Anne C. Voorhoeve auch von Erni Rickmers, Helgoländerin und Schwester von James Krüss, unterstützt.

Eine exzellente Erzählerin

"Unterland", das vom Verlag für junge Erwachsene empfohlen wird, ist meiner Meinung nach für alle geschichtlich Interessierten ab 14 Jahren ein echter Schatz. Anne C. Voorhoeve versteht es mit einer beeindruckenden Intensität, die Schicksale ihrer Protagonisten lebendig werden zu lassen. Dabei wirkt die Erzählung auf der einen Seite ganz wie die  einer Zwölfjährigen. Und dazu gehört eben auch, vieles mit einem guten Schuss Ironie und einigen gepfefferten Randbemerkungen zu würzen. In ihren Beschreibungen ist sie so treffsicher, dass man meinen könnte, die teilweise ziemlich unglücklichen Darsteller würden vor einem stehen. Das ist jener Teil, der Alice und die Menschen um sie herum so lebendig  - ja, manchmal auch unbeschwert - erscheinen lässt.

Manchmal aber spürt man, dass sich auch eine ältere, erfahrenere Alice zu Wort meldet. Dass die Eltern ihren eigenen Kindern die Wahrheit über die Nazi-Verbrechen nicht ins Gesicht sagen konnten, ist eine Wahrheit von vielen, die sie offen ausspricht. Sie webt so lebendig und selbstverständlich diese und andere Lebensklugheiten in ihre Geschichte ein, dass sie bei ihren Lesern noch lange nachklingen.  Mit klarem Blick und gut gesetzten, unaufdringlichen Zwischentönen holt sie die Schicksale derer, die mit eisernem Willen überleben wollen, näher an uns heran. Abgestumpftheit, Opportunismus, Egoismus, gepaart mit Sarkasmus – all das prägte die damalige Zeit, in der jeder sich selbst der Nächste war. Anne C. Voorhoevens Sprache ist gefühlvoll, ohne dabei jemals rührselig zu sein. Sie ist eine wirklich exzellente Erzählerin, die ihre Sprache so selbstverständlich an das Gefühl der damaligen Zeit anpassen kann, dass wir ihr mühelos in die Vergangenheit folgen können. In eine Zeit, in der allein der Winter - und damit der unvermeidlich folgende Hunger - eine Frage von Leben und Tod bedeutete.  Ihre teilweise ungewöhnlichen Satzanfänge betonen das, was sie inhaltlich hervorheben will – und dadurch, dass man sich mit der ungewöhnlichen Satzstruktur auseinander setzen muss, gelingt ihr auch genau das. 

Geschickt führt uns Anne C. Voorhoeve mit nur einem Stichwort immer tiefer in die Geschichte, ihren Gesetzmäßigkeiten und Ereignisketten. Und obwohl sie mit Leichtigkeit die Zeitlinien wechselt, gelingt es ihr, den roten Faden der Geschichte stets im Auge zu behalten. Auf diese Weise ist auch der Leser zu keinem Zeitpunkt nur ein Beobachter. Alle ihre Schilderungen – auch die des mühseligen Alltags – sind interessant, fesselnd und führen uns einzig und allein zu einem Punkt, an dem sich der Kreis am Ende schließt: Die Sprengung Helgolands.

FAZIT

Anne C. Voorhoeve ist eine begnadete Erzählerin, die ihre Leser, einmal für sich eingenommen, nicht so schnell wieder los lässt. Wenn Geschichte so erzählt wird,  ist sie nicht länger trockener Unterrichtsstoff, sondern macht genau das erfahrbar, was ihr Auftrag ist: Die Schicksale von Menschen so lebendig zu erzählen, dass wir uns ihnen verbunden fühlen. Dass im Fall Helgoland die Geschichte selbst ein Happy End geschrieben hat, ist wohl ebenso spektakulär wie tröstlich – und obwohl Alice eine fiktive Protagonistin ist und für viele Kinder dieser Zeit steht, würde ich dennoch gerne wissen, wie ihr Leben wohl weitergegangen ist, in dem Frieden, der für sie zunächst die Hölle war.

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